Freitag, 7. Dezember 2012

Else Lasker-Schüler

von Grete Gulbransson (1882–1934)

Das Telephon läutet, und es ist Else Lasker-Schüler, die ihren Besuch für den Nachmittag bei mir ansagt.
Ich kenn‘ sie nicht, ich weiß nur soviel, daß sie eine deutsche Dichterin ist.
Doch da ich die üble Eigenschaft habe, fast nie etwas zu lesen, so hab‘ ich auch von ihr nur zufällig einmal irgendein Gedicht irgendwie zu Gesicht bekommen, dessen Inhalt mir obendrein entfallen ist.
Das hindert aber nicht, daß ich mich nun unbedingt geschmeichelt fühle und angenehm berührt durch die Tatsache: hier besucht eine deutsche Dichterin die andere und will ihr die Schwesterhand reichen. Wie mag sie aussehn, diese Schwester in Apoll? Ich stell‘ sie mir unwillkürlich groß und blond und stattlich vor, in einer grünseidenen Bluse.
Das Feuer in dem Kamin brennt, davor steht das alte Kanapee und der Stuhl mit den geschnitzten Schlangenlehnen am kleinen Teetisch; von der Decke an der langen Messingkette aber hängt das dicke, rote Rubinglasherz mit der länglichen, stillen Flamme drin. Da sitz‘ ich erwartungsvoll aufgeregt, im weißen, weichwallenden Crepe de Chine-Kleid, eingehüllt in einen weißen Schleier.
Die Türe öffnet sich, und herein tritt ein kleiner, brauner Kerl, so etwa wie ein Abruzzenräuber aussieht.
Draußen gießt es, und er hat, scheint’s, keinen Schirm gehabt, denn das Wasser rinnt in Strömen von seinem verwegenen Hut, seine kurzen, schwarzen Haarzotteln kleben ihm an den gelblichen Wangen, seine dunklen Augen blitzen wild, und er eilt tropfensprühend auf mich Erschrockene zu und ruft: „Schönste, schönste Prinzessin! Hier liegt der Prinz von Theben zu Euren Füßen!“
‚Ist es möglich?‘ denk‘ ich mir.
Aber ich bin doch dem Prinzen von Theben gewachsen und ignoriere den Frauenrock, der jetzt unter seinem nassen, mißfarbenen Mantel zum Vorschein kommt.
Und es fällt mir bei Gott nicht schwer, die Situation meinerseits ebenso schnell zu erfassen, wie der Prinz beim Anblick der poetischen, weißen Gestalt, vom roten Lichtschein des Rubinherzens übergossen am flackernden Kamin, sich im Nu ein Bild und eine Situation seiner ewig regen Dichterphantasie geschaffen hat, die den Boden just für diese Wunderblumen darzustellen vermag, die wir uns gegenseitig erblühen lassen können.
O unvergeßliche Stunde, die erste und einzige, in der ich mit Else Lasker-Schüler zusammen war. Kein Hauch der Wirklichkeit hat uns berührt, es war alles nur die Lust der genialischen Täuschung, ein zweistimmig aus dem Stegreif gesungenes Märchengedicht.

Aus: Das liebe Ich und die Zeitgenossen. Skizzen von Grete Gulbransson. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 40 (1925/1926) Bd. 2, S. 228–234, hier: S. 229f.

Helfen Sie mit!


Herzlich willkommen!


Hier geht's zum Log-in:

Sinniges


"Es gibt Worte, die nie gesagt werden dürfen, sonst sterben sie ..." – Kurt Tucholsky

Sofort lesen!


"Wer ein Buch zusammenstellt mit hilfreicher Weisheit, erdacht von anderen Köpfen, leistet der Menschheit einen größeren Dienst als der Verfasser eines Epos' der Verzweiflung." – Ella Wheeler Wilcox (1850 – 1919)

2017 in 4. Auflage erschienen:


... mehr

2010 erschienen:


Lektüreempfehlung

2018 in 3. Auflage erschienen:


... mehr

IN MEMORIAM


♫ ♪ ♫ ♪ ♫ ♪ ♫ ♪ ♫

HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

♫ ♪ ♫ ♪ ♫ ♪ ♫ ♪ ♫

Archiv


Dezember 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 
 
 

Haftungsausschluss


Ich übernehme keine Verantwortung und keine Haftung für die Inhalte der mit meiner Webseite verknüpften/verlinkten externen Webseiten.

Suche

 

Status


Online seit 6264 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 12. Nov, 12:53

Credits


Aphorismus
Aufgespießtes
Berlin
Bescheidenheit
Bücher
Dummheit
Eifersucht
Erste Saetze
Freundschaft
Frösche
Frühling
Galgenlieder
Geiz
Harz
Herbst
Katzen
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren