Sonntag, 16. November 2008

Bescheidenheit


"Die Absicht nun aber, in welcher der Dichter unsere Phantasie in Bewegung setzt, ist, uns die Ideen zu offenbaren, das heißt an einem Beispiele zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei. Dazu ist die erste Bedingung, daß er es selbst erkannt habe: je nachdem dies tief oder flach geschehen ist, wird seine Dichtung ausfallen. Demgemäß gibt es unzählige Abstufungen, wie der Tiefe und Klarheit in der Auffassung der Natur der Dinge, so der Dichter. Jeder von diesen muß inzwischen sich für vortrefflich halten, sofern er richtig dargestellt hat, was er erkannte, und sein Bild seinem Original entspricht: er muß sich dem Besten gleichstellen, weil er in dessen Bilde auch nicht mehr erkennt, als in seinem eigenen, nämlich so viel, wie in der Natur selbst: da sein Blick nun einmal nicht tiefer eindringt. Der Beste selbst aber erkennt sich als solchen daran, daß er sieht, wie flach der Blick der Andern war, wie vieles noch dahinter lag, das sie nicht wiedergeben konnten, weil sie es nicht sahen, und wie viel weiter sein Blick und sein Bild reicht. Verstände er die Flachen so wenig, wie sie ihn, da müßte er verzweifeln: denn gerade weil schon ein außerordentlicher Mann dazu gehört, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die schlechten Poeten ihn aber so wenig hochschätzen können, wie er sie, so hat auch er lange an seinem eigenen Beifalle zu zehren, ehe eine Welt nachkommt. – Inzwischen wird ihm auch jener verkümmert, indem man ihm zumutet, er solle fein bescheiden sein. Es ist aber so unmöglich, daß, wer Verdienste hat und weiß, was sie kosten, selbst blind dagegen sei, wie daß ein Mann von sechs Fuß Höhe nicht merke, daß er die Andern überragt ... Horaz, Lucrez, Ovid und fast alle Alten haben stolz von sich geredet, desgleichen Dante, Shakespeare, Bako von Verulam und viele mehr. Daß einer ein großer Geist sein könne, ohne etwas davon zu merken, ist eine Absurdität, welche nur die trostlose Unfähigkeit sich einreden kann, damit sie das Gefühl der eigenen Nichtigkeit auch für Bescheidenheit halten könne. Ein Engländer hat witzig und richtig bemerkt, daß merit und modesty nichts Gemeinsames hätten, als den Anfangsbuchstaben. Die bescheidenen Zelebritäten habe ich stets im Verdacht, daß sie wohl recht haben könnten; und Corneille sagt geradezu:

La fausse humilité ne met plus en crédit:
Je scais ce que je vaux, et crois ce qu'on m'en dit.

Endlich hat Goethe es unumwunden gesagt: 'Nur die Lumpe sind bescheiden'. Aber noch unfehlbarer wäre die Behauptung gewesen, daß die, welche so eifrig von Andern Bescheidenheit fordern, auf Bescheidenheit dringen, unablässig rufen: 'Nur bescheiden! um Gotteswillen, nur bescheiden!' zuverlässig Lumpe sind, das heißt: völlig verdienstlose Wichte, Fabriksware der Natur, ordentliche Mitglieder des Packs der Menschheit. Denn wer selbst Verdienste hat, läßt auch Verdienste gelten – versteht sich echte und wirkliche. Aber der, dem selbst alle Verdienste und Vorzüge mangeln, wünscht, daß es gar keine gäbe: ihr Anblick an Andern spannt ihn auf die Folter; der blasse, grüne, gelbe Neid verzehrt sein Inneres: er möchte alle persönlich Bevorzugten vernichten und ausrotten: muß er sie aber leider leben lassen, so soll es nur unter der Bedingung sein, daß sie ihre Vorzüge verstecken, völlig verleugnen, ja abschwören. Dies also ist die Wurzel der so häufigen Lobreden auf die Bescheidenheit. Und wenn solche Präkonen derselben Gelegenheit haben, das Verdienst im Entstehen zu ersticken, oder wenigstens zu verhindern, daß es sich zeige, daß es bekannt werde – wer wird zweifeln, daß sie es tun? Denn dies ist die Praxis zu ihrer Theorie."

Schopenhauer, "Welt als Wille und Vorstellung", 2. Band, 3. Buch 37. Kap.

Zitiert nach Karl Kraus: Die Fackel: Nr. 293, 04.01.1910, 11. Jg., S. 20 ff.

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HELMUT ZEH

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