Freitag, 14. August 2009

Entschlüsse

von Franz Kafka (1883 – 1924)

Aus einem elenden Zustand sich zu erheben, muß selbst mit gewollter Energie leicht sein. Ich reiße mich vom Sessel los, umlaufe den Tisch, mache Kopf und Hals beweglich, bringe Feuer in die Augen, spanne die Muskeln um sie herum. Arbeite jedem Gefühl entgegen, begrüße A. stürmisch, wenn er jetzt kommen wird, dulde B. freundlich in meinem Zimmer, ziehe bei C. alles, was gesagt wird, trotz Schmerz und Mühe mit langen Zügen in mich hinein.
Aber selbst wenn es so geht, wird mit jedem Fehler, der nicht ausbleiben kann, das Ganze, das Leichte und das Schwere, stocken, und ich werde mich im Kreise zurückdrehen müssen.
Deshalb bleibt doch der beste Rat, alles hinzunehmen, als schwere Masse sich verhalten, und fühle man sich selbst fortgeblasen, keinen unnötigen Schritt sich ablocken lassen, den anderen mit Tierblick anschaun, keine Reue fühlen, kurz, das, was vom Leben als Gespenst noch übrig ist, mit eigener Hand niederdrücken, das heißt, die letzte grabmäßige Ruhe noch vermehren und nichts außer ihr mehr bestehen lassen.
Eine charakteristische Bewegung eines solchen Zustandes ist das Hinfahren des kleinen Fingers über die Augenbrauen.

Donnerstag, 13. August 2009

Der plötzliche Spaziergang

von Franz Kafka (1883 – 1924)

Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müßte, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, es nach kurzem Abschied auch tut, je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt, mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlußfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, daß man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, – dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. Verstärkt wird alles noch, wenn man zu dieser späten Abendzeit einen Freund aufsucht, um nachzusehen, wie es ihm geht.

Mittwoch, 12. August 2009

Man soll . . .

Man soll auf Reisen gehen, um die Menschen kennen zu lernen? Die andern lernt man zu Hause besser kennen, aber in der Fremde sich selbst. (Paris am 14t Mai 1836)Franz Grillparzer (1791 – 1872)

Dienstag, 11. August 2009

Wie wahr . . .


Die Kellner
von Peter Altenberg (1859 – 1919)

Mein Vater kam zehn Jahre lang nach einer Geschäftsreise nicht mehr nach seinem geliebten Paris. Als er endlich wieder hinkam, sagte der Kellner bei "Brébant": "Mein Herr, wir haben Sie seit langem erwartet. Wir werden Ihnen Ihr Lieblingsdiner servieren lassen, falls es Ihnen recht ist, und Sie Ihren Geschmack nicht geändert haben – – –".
Und es kam das Lieblingsdiner, das man sich zehn Jahre lang gemerkt hatte.
Bei uns ist es anders. Wenn ein Gast zehn Jahre lang Rostbraten mit Zwiebeln haßt und er sanftmütig sagt: "Heute möchte ich etwas essen, was mir besonders schmeckt", so erwidert der Kellner: "Vielleicht ein schönes Rostbraterl mit Zwiefel – – ".
Aufmerksamkeit ist die Quelle von Trinkgeldern! Aber das wollen sie bei uns nicht einsehen. Sie sind nicht "kultiviert" genug, um ein gegenseitiges Geschäft mit dem Gaste zu machen, bei welchem beide Teile ihren Nutzen ziehen! Der Gast ist ihnen "gleichgültig". Das spürt dieser. Daher eine Beziehung, die gleichsam sogar feindselig ist.
In Paris gibt es ebensowenig Idealisten und Schwärmer unter den Kellnern wie in anderen Städten. Sie haben die Sucht nach erhöhtem Trinkgelde, selbstverständlich. Aber sie sind eben hierin geschicktere Menschenkenner. Sie wissen es, daß man etwas dazu tun muß. Einem Gaste auf ehrliche Weise seine Taschen öffnen, ist alles! Das ist die Kellnerkunst! Außerdem sollte man den Ehrgeiz haben, in seiner Betätigung, und sei sie noch so unscheinbar, das Besondere zu leisten. Das erhöht das Lebensgefühl, steigert die Lebensenergien, kommt also dem zugute, der es ausübt. Auch das ist das beste Geschäft, das man mit den anderen machen kann! Bediene verdrossen, mürrisch, gleichgültig – – – und es wird dich schwächen, lähmen! Bediene den Gast liebenswürdig, aufmerksam, bedacht auf alles – – – und es wird dich verjüngen, dich lebendig machen und frohsinnig! Menschenfreundlichkeit ist das beste Geschäft, das man machen kann mit seinen Nebenmenschen. Aber es muß einem "organisch" sein, kein Zwang.
"Mein Herr, ich werde Ihnen heute eine 'souppe à la moelle' bringen, ich habe nämlich das herrliche Markbein dazu bereits gesehen – – –".
Oder: "Die schönsten 'Sole' sind bereits verkauft, nehmen Sie daher heute lieber 'Branzino'; weshalb sollten Sie sich mit den kleineren Soles begnügen?!?" Man erwartet von einem regelmäßig bedienenden Kellner die zarten Aufmerksamkeiten einer Mama für ihr Baby. Aber meistens ist er ein unwilliger Pflichterfüller. Aber auch der Gast ist kein Lebenskünstler, falls er nicht "besondere Leistungen der Menschheit" besonders honoriert! Er denkt roh und unmenschlich: "Dafür ist er doch eben angestellt – – –". Da geschieht es ihm recht, wenn er vor Ärger einen Magenkatarrh kriegt! Niemand ist angestellt hienieden für "zärtliche Behandlung"! Dafür gehören Extrahonorare!

Dienstag, 4. August 2009

Kurz und bündig

Mit wenigen Worten viel sagen heißt nicht, erst einen Aufsatz machen, und dann die Perioden abkürzen; sondern vielmehr, die Sache erst überdenken, und aus dem Überdachten das Beste so sagen, daß der vernünftige Leser wohl merkt, was man weggelassen hat. Eigentlich heißt es, mit den wenigsten Worten zu erkennen geben, daß man viel gedacht habe.Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799)

Freitag, 31. Juli 2009

Tragisch . . .

Lese das Buch, langweilig, schlafe drüber ein, im Schlafe träume ich weiterzulesen, erwache vor Langeweile, und das dreimal –Heinrich Heine (1797 – 1856)

Mittwoch, 29. Juli 2009

Plagiator vs. Original

Ein Original ist heute, wer zuerst gestohlen hat.Ein Plagiator sollte den Autor hundertmal abschreiben müssen.Als ich las, wie ein Nachahmer das Original pries, war es mir, als ob eine Qualle ans Land gekommen wäre, um sich über den Aufenthalt im Ozean günstig zu äußern.Karl Kraus (1874 – 1936)

Dienstag, 28. Juli 2009

Sommerglück

von Gustav Falke (1853 – 1916)

Blütenschwere Tage
In Düften und Gluten rings,
Mein Herz tanzt wie auf Flügeln
Eines trunkenen Schmetterlings.

Die Rosen über den Mauern,
Der Birnbaum darüber her,
Alles so reich und schwer
In sehnenden Sommerschauern.

Das juligelbe Land
Mit dem träumenden Wälderschweigen
Fern am duftigen Rand,
Darüber die Wolken steigen –

O, wie sag ich nur,
Was alles mein Wünschen ins Weite führt!
Mich hat des Glücks eine leuchtende Spur
Mit zitternder Schwinge berührt.

Samstag, 25. Juli 2009

Rezept gegen Unfruchtbarkeit


Eine Person anderen Geschlechts schneide dem oder der Unfruchtbaren von allen Haaren des Körpers und von den Nägeln an Händen und Füßen kleine Theile ab, thue sie in ein neues leinenes Läppchen, bohre ein Loch in einen Fliederbaum (Sambucus), stecke das Läppchen dahinein und verkeile dann das Loch mit einem Pfropfen von grünem Hagedorn (Crataegus). Dies Alles geschehe stillschweigend, drei Tage vor Neumond.

Aus: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg. Gebräuche und Aberglauben, gesammelt von Karl Bartsch (1832 – 1888)

Mittwoch, 22. Juli 2009

Bescheidenheit vs. Stolz

Wo gibt es noch einmal zwei Dinge so entgegengesetzt und doch so nahe verwandt, so unähnlich und doch so kaum voneinander zu unterscheiden wie Bescheidenheit und Stolz?Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916)

Montag, 20. Juli 2009

streiten vs. ausweichen

Nicht jene, die streiten, sind zu fürchten, sondern jene, die ausweichen.Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916)

Samstag, 18. Juli 2009

fruchtbar vs. steril

Der Hass ist ein fruchtbares, der Neid ein steriles Laster.Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916)

Mittwoch, 15. Juli 2009

Die zwei Wurzeln

von Christian Morgenstern (1871 – 1914)

Zwei Tannenwurzeln groß und alt
unterhalten sich im Wald.

Was droben in den Wipfeln rauscht,
das wird hier unten ausgetauscht.

Ein altes Eichhorn sitzt dabei
und strickt wohl Strümpfe für die zwei.

Die eine sagt: knig. Die andre sagt: knag.
Das ist genug für einen Tag.

Dienstag, 7. Juli 2009

Selbstlob

Er lobt sich so stark, daß die Räucherkerzchen im Preise steigen.Heinrich Heine (1797 – 1856)

Gefrorenes

von Ludwig Börne (1786 – 1837)

Wie schade, daß die heißen Tage vorüber sind, vielleicht hätte meine kleine Beschreibung von dem hiesigen künstlichen Winter der Einbildungskraft der deutschen Leser einige Kühlung gegeben, das ihnen erwünscht gewesen wäre. Denn wie man mir aus Deutschland geschrieben, hat es dort diesen Sommer sehr an Eis und Kälte gemangelt. In welchen Zeiten leben wir, was erlebt man nicht alles! Aber den Engländern ist es nicht besser gegangen; auch sie hatten Mangel an Eis. Zwar hatten sie Schiffsladungen davon aus Schottland herbeigeholt; während sie sich aber in den Häfen mit den Zöllnern herumgestritten, ob diese Ware zu verzollen sei oder nicht, war der Gegenstand des Rechtsstreites zu Wasser geworden – ein Umstand, der bei Prozessen nicht selten eintritt. Noch größeres Mißgeschick hatten andere britische Handelsleute erfahren, welche Schiffe auf den Eisfang nach Island ausgeschickt. Zwei der Schiffe gingen mit Mannschaft und Ladung zugrunde. Diese Gefahren hatte der deutsche antipiratische Verein wahrscheinlich vorher berechnet, sonst hätte er sicher bei dem ihm eigenen Unternehmungsgeiste seine, durch den Schrecken der Raubstaaten müßig gewordenen Flotten benützt, dem deutschen Bunde heilsame Abkühlung zu verschaffen! ... Aber ich bin von meinem Wege abgekommen. In Paris hat man Eis in Überfluß, von wo man es herbekommt, mag der Himmel wissen. Das beste Gefrorne findet man bei Tortoni auf dem Boulevard des Italiens. Man hat dort jeden Abend die süße Not, zwischen dreizehn Sorten zu wählen. Ich will sie nennen: Vanille, pistache, café blanc, fraise, groseille, framboise, citron, pèche, ananas, raisin, melon, pain d'Espagne, biscuit glacé à la fraise. Worin besteht das Wesen eines biscuit glacé? Ich habe es nicht herausgebracht, es ist eine Zuckerbäckerscharade. Ein Chemiker müßte ich sein, es nach seinen Bestandteilen, ein Dichter, es würdig, ein Stoiker, es mit Gleichmut zu beschreiben. Anfänglich dachte ich: das wird wohl wieder eine französische Windbeutelei, dieser sogenannte Biscuit glacé wird nichts als gewöhnliches Eis nur mit der Form und Farbe eines Biscuit sein! Ich genoß und schämte mich meiner Übereilung. Es war wirklich Biskuit, aber ein durchfrorner. So mag Ambrosia munden. Aber Ambrosia ist auch nur ein Wort – man komme und schmecke. Was kann ich von genannter Eisart Rühmlicheres erzählen als folgendes? Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, daß eine wunderschöne junge Frau, die eifrig davon gegessen und ihr Glas schneller ausgeleert als ihr väterlicher Gatte das seinige, in dieses mit ihrem Löffel lächelnd Eingriffe getan, so daß der des Entzückens ungewohnte Ehemann sich triumphierend herumgesehen und allen anwesenden jungen Leuten zu verstehen gegeben, sie sollten daraus entnehmen, wie wenig für sie zu hoffen sei – so sehr liebte die junge Frau gefrornen Biskuit. – Diejenigen meiner Leserinnen, die je in Paris und währenddem schön oder jung oder reich gewesen (dem Reichtum verkauft man, der Schönheit bringt man, die Jugend nimmt sich dort alles), die lächelten gewiß voll seliger Erinnerung, da ich von Tortoni und den Boulevards des Italiens gesprochen. In schönen Sommernächten da sitzen ... säuselnde Bäume ... umgaukelnde Bewunderer ... von tausend Lichtern zauberisch umflossen ... eine herrliche Zither tönt herüber ... drollige Savoyarden mit ihren tanzenden Affen betteln um ein Lächeln und einen Kupferpfennig ... und dabei den süßen Schnee herabzuschlürfen, wie das köstlich ist! Ach, es denkt keiner daran, wie teuer sich oft die Natur ihre Schmeicheleien der menschlichen Lüsternheit bezahlen läßt!

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HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

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