Karl Kraus
von Ignaz Wrobel [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Am Freitag las Karl Kraus im Bechstein-Saal aus seinen Schriften – Karl Kraus, der wiener Herausgeber der Fackel, die im Kriege so vielen dunklen Köpfen vorangeleuchtet hat. Er las künstlerisch Gestaltetes aus der großen Zeit.
Gestank steigt auf, es war, als ob ein geschichtliches Grammophon zurückgedreht wurde, die herrliche, die große Zeit stand noch einmal da im bunten Glanze all ihrer Uniformen – Hurra! Fürsten, Könige, Universitätsprofessoren, Durchhalter aller Kaliber, Presselumpen, Schmöcke, Offiziere und Huren – all das Gelichter ließ er noch einmal erstehen. Und es erstand und war lebendig – Kraus sagt einmal selbst, es sei die tragische Pflicht seiner Figur, vor alles, was wirklich geschehen sei, nur die Anführungsstriche zu setzen, und dann glauben die Leute, er habe es erfunden. So etwas gebe es nicht – so etwas könne man nur erfinden . . . Aber es ist immer wahr gewesen.
Tot ist die Zeit, und so lebendig! Hat sich denn etwas geändert? Wenn man diese Vorlesung hörte, muß man sagen: kaum. Kraus las aus seinem gewaltigen Drama "Die letzten Tage der Menschheit" – das in Zeitungsausschnitten, Reden, Zitaten und Presseberichten das Jammerbild dieser großen Jammerzeit in fotografischer Treue wiedergibt. Ein Tosen ging durch den Saal, als Kraus meisterhaft leise und klar von der Audienz vortrug, die Seine Majestät der Kaiser dem wiener Schriftsteller Hans Müller in der wiener Hofburg gewährt hatte und nach der beide, hoch voneinander entzückt, geschieden waren: "Daß der Kaiser auf einen Brünner Juden hereinfällt, das ist ja weiter kein Wunder – aber daß ein Brünner Jud auf den Kaiser hereinfällt . . . !" Nur eine schüchterne Pfeife sang leise das Lied von der deutschen Mannentreue in den Jubel . . .
Aber der Höhepunkt des Abends war doch der Brief, den Rosa Luxemburg im Jahre 1917 aus dem preußischen Weibergefängnis in Luckau an Sophie Liebknecht geschrieben hat. Wie in diesem Brief da das Weh einer ganzen Menschheit klagt, wie die Leiden der aus Rumänien geraubten Büffel, die vor Kommißwagen gespannt waren, der unvergessenen Frau Tränen entlockten – "und ich weinte ihre Tränen!" –, das brannte sich in die Herzen. Und bei diesen Worten: "Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei" dachten wir der Toten.
Hat sich etwas gewandelt? Der Saal erbrauste, und Kraus verneigte sich. Hier in Berlin wäre er längst ein toter Mann – er hätte sich sicherlich seiner – ungesetzlichen – Verhaftung durch die Flucht entzogen und wäre unterwegs auf einem Transport abhanden gekommen. Wohl ihm, daß er in Wien lebt.
Hat sich etwas gewandelt? Nein. Und wir schieden von Karl Kraus, im Ohr diese Worte:
"Und Kaiserreiche haben Präsidenten an der Spitze!"
Aus: "Freiheit", 31.05.1920
Am Freitag las Karl Kraus im Bechstein-Saal aus seinen Schriften – Karl Kraus, der wiener Herausgeber der Fackel, die im Kriege so vielen dunklen Köpfen vorangeleuchtet hat. Er las künstlerisch Gestaltetes aus der großen Zeit.
Gestank steigt auf, es war, als ob ein geschichtliches Grammophon zurückgedreht wurde, die herrliche, die große Zeit stand noch einmal da im bunten Glanze all ihrer Uniformen – Hurra! Fürsten, Könige, Universitätsprofessoren, Durchhalter aller Kaliber, Presselumpen, Schmöcke, Offiziere und Huren – all das Gelichter ließ er noch einmal erstehen. Und es erstand und war lebendig – Kraus sagt einmal selbst, es sei die tragische Pflicht seiner Figur, vor alles, was wirklich geschehen sei, nur die Anführungsstriche zu setzen, und dann glauben die Leute, er habe es erfunden. So etwas gebe es nicht – so etwas könne man nur erfinden . . . Aber es ist immer wahr gewesen.
Tot ist die Zeit, und so lebendig! Hat sich denn etwas geändert? Wenn man diese Vorlesung hörte, muß man sagen: kaum. Kraus las aus seinem gewaltigen Drama "Die letzten Tage der Menschheit" – das in Zeitungsausschnitten, Reden, Zitaten und Presseberichten das Jammerbild dieser großen Jammerzeit in fotografischer Treue wiedergibt. Ein Tosen ging durch den Saal, als Kraus meisterhaft leise und klar von der Audienz vortrug, die Seine Majestät der Kaiser dem wiener Schriftsteller Hans Müller in der wiener Hofburg gewährt hatte und nach der beide, hoch voneinander entzückt, geschieden waren: "Daß der Kaiser auf einen Brünner Juden hereinfällt, das ist ja weiter kein Wunder – aber daß ein Brünner Jud auf den Kaiser hereinfällt . . . !" Nur eine schüchterne Pfeife sang leise das Lied von der deutschen Mannentreue in den Jubel . . .
Aber der Höhepunkt des Abends war doch der Brief, den Rosa Luxemburg im Jahre 1917 aus dem preußischen Weibergefängnis in Luckau an Sophie Liebknecht geschrieben hat. Wie in diesem Brief da das Weh einer ganzen Menschheit klagt, wie die Leiden der aus Rumänien geraubten Büffel, die vor Kommißwagen gespannt waren, der unvergessenen Frau Tränen entlockten – "und ich weinte ihre Tränen!" –, das brannte sich in die Herzen. Und bei diesen Worten: "Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei" dachten wir der Toten.
Hat sich etwas gewandelt? Der Saal erbrauste, und Kraus verneigte sich. Hier in Berlin wäre er längst ein toter Mann – er hätte sich sicherlich seiner – ungesetzlichen – Verhaftung durch die Flucht entzogen und wäre unterwegs auf einem Transport abhanden gekommen. Wohl ihm, daß er in Wien lebt.
Hat sich etwas gewandelt? Nein. Und wir schieden von Karl Kraus, im Ohr diese Worte:
"Und Kaiserreiche haben Präsidenten an der Spitze!"
Aus: "Freiheit", 31.05.1920
Clarisse1 - 9. Sep, 13:05
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