Besessenheit I
[. . .] Seine Besessenheit sammelte sich in dem einen Punkt. Jeder Blick forschte greulich, jedes Wort sondierte, hinter jeder Zärtlichkeit und Berührung war die eine Frage. Sie wich aus; er wurde rasend. Sie wollte ihn besänftigen; er warf sich hin und küßte ihre Füße. Sie erbarmte sich und täuschte ihn für die Dauer einiger trunkener Stunden mit den frei erfundenen Einzelheiten einer platonischen Schwärmerei. Er schien zu glauben, warb um Verzeihung, verhieß Besserung, Schweigen, Schonung. Aber es verstrich kein Tag, und das Unwesen begann von neuem. Sein Auge war vom Mißtrauen geätzt; Christian Wahnschaffe war der Feind, der Dieb, der Widersacher. Was war zu der und der Zeit? Was hast du ihm da und da gesagt? Was hat er geantwortet? Woher kam er? Wohin ging er? Hat er das Letzte von dir verlangt? Hast du ihn geküßt? Einmal? Viele Male? Hast du gewünscht, daß er dich küsse? Wo warst du allein mit ihm? Wie sah das Zimmer aus? Was für ein Kleid trugst du? Rettungslos; eine Schraube, die sich einbohrt. Johanna stieß ihn von sich. Sie höhnte; sie seufzte; sie schlug die Hände vors Gesicht; sie weinte; sie lachte; und sie wich nicht um Haares Breite.
Aus: Jakob Wassermann (1873 – 1934): Christian Wahnschaffe. Berlin: S. Fischer 1919.
Clarisse1 - 24. Apr, 11:27
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