Sonntag, 25. Februar 2007

Die Kunst, in 24 Stunden ein schlechter Dichter zu werden

von Fritz Mauthner

Ich hatte mir die Sache eigentlich noch leichter vorgestellt. Ich hatte geglaubt, den schlechten Dichtern gäbe es Gott im Schlafe, sie brauchten überhaupt gar kein Studium, um ihrem Beruf mit Erfolg zu fröhnen. Es mag auch wohl einzelne solcher gottbegnadeten schlechten Dichter geben. In einer wissenschaftlichen Klassifizierung der sogenannten Minusdichter würden sie die Gattung der Natur-Minusdichter ausmachen.
Aber nicht einem jeden wird es so leicht, daß er ein gänzlich mißlungenes Gedicht schlankweg, einfach seinem Genius folgend, zu Stande zu bringen vermöchte. Die meisten besitzen wenig Anlage, Dichter im allgemeinen (also für gewöhnlich schlechte Dichter) zu werden; da aber ihr Ehrgeiz sie in den Jahren zwischen 15 und 20 unwiderstehlich dahin drängt, so muß ihnen mit guten Handbüchern der "Poetik" unter die Arme gegriffen werden. Alle diese Handbücher, selbst diejenigen unserer besten Dichter und Kritiker, haben die Gabe, schlechte Dichter hervorzubringen; insbesondere erzeugen diejenigen Werke, welche im Speziellen die Technik einer besonderen Dichtungsart darstellen, ein fröhliches Geschlecht schlechter Lyriker, Dramatiker und Romanschreiber.
Die angehenden schlechten Dichter haben aber allmählich ein gewisses Mißtrauen gegen ihre gründlicheren Hilfsbücher gefaßt. Sie haben einsehen gelernt, daß das anstrengende Studium mehrerer Monate, welches sie z. B. auf die didaktischen Schriften von Freytag und Gottschall verwandten, die Schlechtigkeit ihrer Gedichte nicht im Verhältnisse zu der ausgestandenen Mühe steigerte. Sie haben sich gefragt, ob für ihren bescheidenen Zweck nicht eine kürzere Lehrzeit geschaffen wäre. Und in diesem psychologischen Momente, in welchem zahlreiche Jünglinge schon Miene machten, das schwierige Handwerk eines schlechten Dichters aufzugeben, kam ihnen ein ungenannter Schöngeist mit einem Lehrbuch entgegen, welches die nötigsten Vorkenntnisse binnen wenigen Stunden dem Gedächtnisse einprägt.
Das lesenswerte und sicherlich fruchtbringende Büchlein, welches samt hochelegantem Einbändchen nur 50 Pfennig kostet, heißt: "Poetik, eine Anleitung zur Dichtkunst" und ist das 22. Bändchen einer "Miniatur-Bibliothek des Nützlichen und Angenehmen". (Leipzig, Verlag von Heinrich Matthes.)
Ich habe anfangs gezögert, ob ich den Verlag nennen und durch Anpreisung des Büchleins die Zahl meiner Rivalen vermehren helfen soll. Aber die bessere Natur hat gesiegt; alle meine Leser sollten das 22. Bändchen der Miniatur-Bibliothek kaufen und wenn darüber auch das Dichten noch wohlfeiler werden sollte.
Die Inhaltsangabe der übrigen Bändchen läßt schon den Geist dieses zeitgemäßen Unternehmens ahnen. Dem Gebiete des Nützlichen gehören wohl an: ein "Traumbuch", eine "Hellseherin", ein "Punktierbuch" – während die "Blumensprache", die "Polterabendszenen", ein "Fremdwörterbuch" und die "Geschäftstabellen" offenbar schon mehr angenehm sind. In einer so tiefsinnig angelegten Sammlung der wertvollsten Bücher durfte natürlich eine Poetik nicht fehlen.
Wer der Verfasser ist, erfahren wir leider nicht. Seine Lehren werden in den Schriften der Lebenden so vielfach befolgt, daß die Vermutung, welche ihn unter den Berufs-Schriftstellern sucht, leicht irre gehen kann. Jedenfalls hat er an den Gedichtsammlungen unserer beliebtesten Lyriker mitgearbeitet.
Ein besonderer Vorzug unseres Lehrmeisters besteht in einer gewissen Treuherzigkeit, mit der er seine oft kühnen Behauptungen hinstellt. Dieser sichere Glaube an den Wert der eigenen Lehrmeinungen wird nur auf gänzlich verkommene Menschen komisch wirken. Dem Schüler prägen sich die Sätze nur um so fester ein. Zum Beispiel:
"Die Vierzeile ist ursprünglich auch eine orientalische Dichtungsart. Die ganze Dichtung besteht nur aus neun Zeilen."
Kann man Wesen und Namen der "Vierzeile" kürzer und eindringlicher erklären? Ein anderer hätte vielleicht Zeit und Worte verschwendet, das versteckte mathematische Rätsel seiner Mitteilung aufzulösen; unser Anonymus geht ruhig lächelnd zu anderen Dingen über.
Über die Prosodie muß ich stillschweigend hinweggehen, weil die in diesem Abschnitt gehäuften Kühnheiten doch nur uns gelehrten Mitdichtern imponieren können. Aber schon die "Lehre vom Versmaße" beginnt hübsch in der trockenen Weise des Verfassers:
"Die Glieder eines Verses heißen Füße, weil sie gleich den Takten in der Musik durch den Taktschlag des Fußes oder der Hand angedeutet werden können."
Eine feine Andeutung, daß man diese Teile möglicherweise auch Hände nennen könnte, was ja bekanntlich sonst nur bei den schnellsten Virtuosen, den Vierhändigen, möglich ist.
Gleich darauf heißt es gemütvoll: "Die Silben eines Versfußes senken sich oder heben sich." Ich wünschte, alle meine Leser wären zu schlechten Dichtern ausgebildet, da sie sonst schwerlich die ganze traurige Tiefe dieses Satzes zu würdigen vermöchten. Es ist kein Wunder, wenn bei dieser unnatürlichen Bewegung der Silben schließlich ganze Verse seekrank werden.
Über eine neue Art von Cäsuren hinweg, welche (z. B. "Heldenver--dienst") ein Wort in der Mitte durchschneiden, gehen wir rasch zur Hauptsache über.
Was will der angehende schlechte Dichter" Ein Gedicht zu Stande bringen. Und wie stellt er das an? Unsere Poetik sagt wörtlich:
"Um ein Gedicht zu Stande zu bringen, können wir einen und denselben Vers gleichmäßig wiederholen, bis der gegebene Stoff sein Ende erreicht hat, oder u. s. w."
Ich kann das Mittel empfehlen. Nichts ist leichter. Ich habe selbst die längsten Gedichte zu Stande gebracht, indem ich einen und denselben Vers gleichmäßig so lange wiederholte, bis mein Stoff sein Ende erreicht hatte. Die Gedichte waren etwas einförmig aber fehlerfrei.
Unsere Ausbeute aus den Verfassers Lehre von den gebräuchlichsten Versarten wäre sehr groß, wenn wir uns mit Kleinigkeiten abgeben wollten. Einzelnes blieb mir dunkel, so die Behauptung, der Pentameter habe vier Daktylen, Spondeen oder Trochäen, die in der ersten Hälfte unwillkürlich abwechseln. Neu war mir die Mitteilung, daß es männliche und weibliche Reime gäbe und daß "man diese beiden Reime übrigens heroische nennt". Noch überraschender mag für viele die Entdeckung sein, daß die Stanze, das Sonett, das Madrigal, die Ghasele, sowie auch die oben erwähnte Vierzeile Versarten sind, welche die Deutschen den Dichtungen der Alten nachgebildet haben. Man sollte diese bisher so arg vernachlässigten griechischen Sonetten- und Ghaselendichter doch endlich in den gelehrten Schulen einführen!
Kurz und schlagend wird das Kapitel von den poetischen "Figuren" abgethan. Hier ist der Anleiter zur Dichtkunst in seinem Elemente. Auch ist er viel toleranter als andere Theoretiker. So gestattet er unter der Ausrede einer "Anastrophe" überall anstatt "Glas Wein" ruhig "Weinglas" zu sagen. Die Hausfrauen, welche fortan ihren Gästen anstatt mit Wein wohlfeil mit Anastrophen und Weingläsern den Durst stillen werden, dürften für diese "Figur" schon recht dankbar sein. Aber auch der dichtende Gatte wird von der Erlaubnis Nutzen ziehen, wenn er statt "Seeschiff" künftighin "Seefisch", statt "Frauenzimmer" "Zimmerfrau" reimen darf.
Der Anonymus ist allerdings ein so strenger Fachmann, daß er sofort Irrtümer begeht, sowie er sein eigentliches Gebiet, das der Dichtkunst und Literatur, verläßt. So passiert es ihm in der Historie, daß er bei Gelegenheit einer Würdigung des Nibelungenliedes die falsche Behauptung aufstellt: die Nibelungen seien das "deutsche Grundvolk". Auch in der Musikgeschichte scheint er nur ein Dilettant zu sein; wenigstens führt er als Beispiel für "die große ernste Oper, wo alles gesungen, nichts gesprochen wird", Mozarts "Don Juan", als Beispiel für "die romantische Oper, wo Gesang mit gesprochenen Monologen und Dialogen abwechselt", Richard Wagners "Fliegenden Holländer" an. Nein, unser Lehrer ist nur Literaturhistoriker, aber als solcher ist er großartig. Man höre folgenden kritischen Satz über die Posse, dem ich einen besonderen Absatz einräumen muß:
"Posse nennt man dasjenige Lustspiel, das ins Niedrigkomische gegangen ist: Lessings Minna von Barnfeld."
Durch diese wenigen Auszüge glaube ich die neue Poetik allen schlechten Dichtern und solchen, die es werden wollen, genugsam empfohlen zu haben. Ihre Brauchbarkeit für praktische Zwecke wird erhöht durch ein wirklich neues "Deutsches Reimlexikon".
Die Ansichten des Verfassers über den Reim sind äußerst strenge:
Der Wohllaut und die Dichtkunst unsrer Zeit ("Wohllaut unsrer Zeit" ist übrigens schön gesagt) verlangt "reine Reime". Reime wie "können – stöhnen", "nähren – stören", können nur im allerhöchsten Notfalle angewendet werden. Folgende Blumenlese aus dem Reimlexikon wird beweisen, daß dieses ganze Lexikon nur für allerhöchste Notfälle eingerichtet ist, – und ein solches hat bisher nach dem Urteil aller Einsichtigen gefehlt. Also hören wir, wie wir reimen sollen: "machtlos – sorglos, Millionär – pekuniär – ordinär – Revolutionär (es liegt ein ganzes Sonett in diesen Reimen), unpäßlich – häßlich, spät – unstät, Pauke – Mauke, Geige – Anzeige, erblich – Fähndrich, Enterich – Wüterich, Oper – Schober, Gewühl – grün, Kultur – Ruh" u. s. w. u. s. w.
Kein Scherz! Alles buchstäblich zu lesen im neuesten deutschen Reimlexikon.
Ich selbst werde von dem Büchlein wenig Gebrauch machen. Ich dichte seit früher Jugend ohne Anleitung schlecht. Wer aber überhaupt in der traurigen Lage ist, zu solchen gelehrten Werken seine Zuflucht zu nehmen, der wird gewiß das 50-Pfennig Büchlein nicht verachten. Man kann nicht schneller und nicht billiger ein schlechter Dichter werden.

(aus: Fritz Mauthner: Credo. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1886, S. 164-169)

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HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

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