Samstag, 27. Oktober 2007

Alkohol

von Peter Altenberg (1859 – 1919)

Ich bin ein fanatischer Anti-Alkoholiker, aber ausschließlich nach dem Tolstoi-Prinzipe: Wenn die Menschen einmal so gesundheitgemäß, so weise mäßig, so bewußt, erkennend das Gute und das Böse, leben werden, dann werden sie in ihren genialen Nüchternheiten des Alkohols entbehren können. Die Krücke Alkohol für den Lahmen! Der Alkohol ist das Betäubungsmittel, damit wir es nicht spüren, wie weit entfernt von unseren innersten unentrinnbaren Idealen wir dahin vegetieren! Damit wir nicht vorzeitig verzweifeln! Der Alkohol läßt uns Zeit – – – zum Entschluß des Selbstmords! Der Gulden, den wir mehr ausgeben als wir sollten, die Frau, die wir als Ungeliebte, Unverehrte dennoch in unsere Arme nehmen, die Stunde, die wir dem notwendigen Schlafe rauben, die Nahrung, die wir überflüssigerweise genießen, Alles, Alles, was nicht das heilige Notwendige im Haushalt des natürlichen Organismus repräsentiert, es muß durch Alkohol in unseren reuevollen Gedächtnissen ausgetilgt werden! Die Melancholie über seine Sünden, seine Unwissenheiten, seine Schwachheiten muß hinweggeschwemmt werden durch Bier und Wein und Schnaps! Bei irgend einem Glase Bier wird einem die ohne Liebe genossene Frau, der überflüssig ausgegebene Gulden und das ganze Martyrium des Daseins wurst! Bier besiegt jede unglückliche Stimmung, schwemmt sie dahin. Der Zins steht vor der Türe oder die Schneider-Rechnung. Aber beim vierten Krügel Löwenbräu sage ich dem Hausherrn die gräßlichsten Dinge ins Gesicht, innerlich natürlich, schmeiße ich den Schneider die fünf Treppen hinab, innerlich. Und selbst die Geliebte erhält einen Tritt, innerlich. Bier besiegt jede unglückliche Liebe.
Alkohol füllt die schreckliche Kluft aus zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein möchten, sein sollten! Werden müssen! Als der Affe erkannte, daß er ein Mensch werden könnte, begann er zu saufen, um den Schmerz seines Noch-Affe-Seins hinwegzuschwemmen. Als der Mensch erkannte, daß er ein Göttlicher werden könnte, begann er zu saufen, um den Schmerz seines Noch-Mensch-Seins hinwegzuschwemmen. Gebt dem Menschen die ihm zugehörige Tätigkeit – geistige oder körperliche –, die ihm zugehörige Frau, die ihm zugehörige Nahrung, die ihm zugehörige Ruhe – – – und er wird es, ohne selbst es zu wissen, spüren: Ἄριστον μὲν ὺδωρ.
Alkohol ist die Ausgleichung für unsere Unzulänglichkeiten! Je zulänglicher wir sind nach den idealen Plänen Gottes, desto weniger Alkohol brauchen wir. Alkohol ist der Maßstab für die Melancholie des Idealisten. Ich schwemme es hinweg, daß ich nicht göttlich sein kann!
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Aus: Die Fackel Nr. 160 vom 23.4.1904, S. 17ff.

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