Sonntag, 18. November 2007

Der alte Fahrer

von Anonym [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]

Da sagen die Leute immer, der moderne Verkehr hebe alle Poesie auf. Das ist gar nicht wahr. Ich meine nicht die Romantik der Eisenbahnen, eines Bahnhofs bei Nacht und all der Dinge, in denen Gott Maschine eine beängstigende Rolle spielt. Nein, auch die Idylle ist noch nicht ausgestorben.
Ich stand vorn auf der Plattform eines Wagens der elektrischen Straßenbahn zu Berlin. Ich war mit dem Fahrer allein, – und wir sausen so die schnurgerade Straße herauf bis zur Haltestelle. Da stieg ein Mann auf, mit einem fröhlichen, roten Gesicht, blauen Augen, in ganz anständiger Kleidung. Wir fuhren weiter … "Na", sagte auf einmal der Mann zu dem Fahrer, "ick habe auch ma jefahren bei euch!" – Das durfte er aber gar nicht sagen, denn die Unterhaltung ist strengstens verboten. Er tats aber doch. Und der Fahrer überschritt seinerseits auch die Schweigevorschrift, drehte sich interessiert um und sprach: "So? – Wo denn?" Der andere nannte die Linie, und gleich begannen sie sich über die Einzelheiten des Dienstes zu unterhalten, über die strengen Vorgesetzten, über die Gewohnheiten, die Handgriffe des Personals, – und es hagelte Fachausdrücke und mir unverständliche Abkürzungen … Der Wind pfiff uns um die Ohren, – alles konnte ich nicht hören. Aber einmal, da leuchteten dem Zivilisten die Augen. Sie sprachen von der Schnelligkeit der verschiedenen Wagen. – Das hatte ich nun wieder nicht gewußt, daß nicht alle Wagen gleich schnell fahren. Nein, das taten sie nicht. "Mensch", sagte er, "wie fährt denn die Nummer 6734?" – Die Nummer wußte er auch noch! – "Das war ein Renner!" – Und von 6714 wußte er noch und von 6857 und 4532 – das waren die Wagennummern, die hatte er behalten! – Und als sie alle alten Erinnerungen ausgetauscht hatten, – da bat er den Kollegen: "Laß mich doch noch einmal fahren!" – Und weil er gar so bat, tat ders – obgleich er geflogen wäre, wenns herausgekommen wäre. Und stolz trat der Zivilist an den Führerstand und drehte die Kurbel und bremste und ließ den Wagen laufen, wie dunnemals, als er noch Fahrer war.

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HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

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