von Peter Altenberg (1859 – 1919)
Ich bin ein fanatischer Anti-Alkoholiker, aber ausschliesslich nach dem Tolstoi-Prinzipe: Wenn die Menschen einmal so gesundheitsgemäss, so weise mässig, so bewusst, erkennend das Gute und das Böse, leben werden, dann werden sie in ihren genialen Nüchternheiten des Alkohols entbehren können. Die Krücke Alkohol für den Lahmen! Der Alkohol ist das Betäubungsmittel, damit wir es nicht spüren, wie weit entfernt von unseren innersten unentrinnbaren Idealen wir dahin vegetieren! Damit wir nicht vorzeitig verzweifeln! Der Alkohol lässt uns Zeit – – – zum Entschluss des Selbstmords! Der Gulden, den wir mehr ausgeben als wir sollten, die Frau, die wir als Ungeliebte, Unverehrte dennoch in unsere Arme nehmen, die Stunde, die wir dem notwendigen Schlafe rauben, die Nahrung, die wir überflüssigerweise geniessen, alles, alles, was nicht das heilige Notwendige im Haushalt des natürlichen Organismus repräsentiert, es muss durch Alkohol in unseren reuevollen Gedächtnissen ausgetilgt werden! Die Melancholie über seine Sünden, seine Unwissenheiten, seine Schwachheiten muss hinweggeschwemmt werden durch Bier und Wein und Schnaps! Bei irgend einem Glase Bier wird einem die ohne Liebe genossene Frau, der überflüssig ausgegebene Gulden und das ganze Martyrium des Daseins gleichgiltig! Bier besiegt jede unglückliche Stimmung, schwemmt sie dahin. Der Zins steht vor der Türe oder die Schneider- Rechnung. Aber beim vierten Krügel Löwenbräu sage ich dem Hausherrn die grässlichsten Dinge ins Gesicht, innerlich natürlich, schmeisse ich den Schneider die fünf Treppen hinab, innerlich. Und selbst die Geliebte erhält einen Tritt, innerlich. Bier besiegt jede unglückliche Liebe.
Alkohol füllt die schreckliche Kluft aus zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein möchten, sein sollten! Werden müssten! Als der Affe erkannte, dass er ein Mensch werden könnte, begann er zu saufen, um den Schmerz seines Noch-Affe-Seins hinwegzuschwemmen. Als der Mensch erkannte, dass er ein Göttlicher werden könnte, begann er zu saufen, um den Schmerz seines Noch-Mensch-Seins hinwegzuschwemmen. Gebt dem Menschen die ihm zugehörige Tätigkeit – geistige oder körperliche –, die ihm zugehörige Frau, die ihm zugehörige Nahrung, die ihm zugehörige Ruhe – – – und er wird es, ohne selbst es zu wissen, spüren: Αριστον μεν ύδωρ*.
Alkohol ist die Ausgleichung für unsere Unzulänglichkeiten! Je zulänglicher wir sind nach den idealen Plänen Gottes, desto weniger Alkohol brauchen wir. Alkohol ist der Massstab für die Melancholie des Idealisten. Ich schwemme es hinweg, dass ich noch nicht göttlich sein kann!
*Das Beste ist das Wasser. Pindar: Olympia I, 1.
Clarisse1 - 1. Jun, 15:44
Der Mensch vermag vieles auszuhalten: mancher kann jahrelang leben, ohne geistige Nahrung zu sich zu nehmen.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 30. Mai, 13:28
'Gut schreiben' ohne Persönlichkeit kann für den Journalismus reichen. Allenfalls für die Wissenschaft. Nie für die Literatur.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 20. Mai, 10:47
Ich kannte einen, der die Bildung in der Westentasche hatte, weil dort mehr Platz war als im Kopf.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 17. Mai, 13:29
Der Analytiker macht Staub aus dem Menschen.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 13. Mai, 13:03
von Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)
Nein: ein Turm soll sein aus meinem Herzen
und ich selbst an seinen Rand gestellt:
wo sonst nichts mehr ist, noch einmal Schmerzen
und Unsäglichkeit, noch einmal Welt.
Noch ein Ding allein im Übergroßen,
welches dunkel wird und wieder licht,
noch ein letztes, sehnendes Gesicht
in das Nie-zu-Stillende verstoßen,
noch ein äußerstes Gesicht aus Stein,
willig seinen inneren Gewichten,
das die Weiten, die es still vernichten,
zwingen, immer seliger zu sein.
Clarisse1 - 8. Mai, 14:28
Wenn die H e x e n auf den Wolken fahren, sind sie meist n a c k t.
Anton Birlinger (1834 – 1891): Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Freiburg im Breisgau: Herder'sche Verlagshandlung 1861.
Clarisse1 - 7. Mai, 13:43
von Max Dauthendey (1867 – 1918)
Die Wolken, die sich wie im Schlaf hindehnenden,
Hinziehend über des Himmels Abgrund, den gähnenden,
Sie verleben ihre Tage im Schweben.
Wenn sie sich über die Äcker hinheben,
Sind sie wie Frauen, welche der Erde die Brüste geben,
Sind sie wie Betten, ausgebreitet dem Liebesgelüste;
Sind sie wie schreckende, düstere Schattengerüste,
Sind sie die Herde der Sehnenden
In der Sehnsucht blauer unendlicher Wüste.
Clarisse1 - 7. Mai, 11:35
In den Maienregen sollen die Kinder hinausstehen,
daß sie recht groß werden.
Anton Birlinger (1834 – 1891): Sagen, Märchen, Volksaberglauben. Freiburg im Breisgau: Herder'sche Verlagshandlung 1861.
Wer's nicht glauben mag, der lese hier weiter.
Clarisse1 - 6. Mai, 09:21
Die meisten Menschen beschäftigen sich damit, zu grübeln, wie es die andern besser machen sollten, und sehen sehr scheel, wenn man an ihrer eigenen Unfehlbarkeit zweifelt.Johann Gottfried Seume (1763 – 1810)
Clarisse1 - 5. Mai, 22:10
Gewisse Dinge glaube ich sogleich, wenn ich sie höre, so sehr haben sie den Stempel der Wahrheit; gewisse Dinge, wenn ich sie sehe; gewisse Dinge muß ich sehen und hören, um sie zu glauben; und gewisse Dinge glaube ich nicht, wenn ich sie auch sehe und höre.Johann Gottfried Seume (1763 – 1810)
Clarisse1 - 5. Mai, 15:57
von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)
Frühlingszartes Wohlbehagen
Schwellt erfrorne Poesie.
Maiberauscht im Speisewagen
Ballt sich etwas wie Genie.
Weil Berlin voraus in Sicht ist
Und die Sonne mich bestrahlt.
Und je länger ein Gedicht ist,
Desto besser wird's bezahlt.
Darum: Hundertzweiundneunzig
Tausend und fünfhundertzwei
Oder noch mehr Leute freun sich.
Denn der Winter ist vorbei.
Elf Millionen zweimal hundert
Tausend siebenhundertzehn
Menschen sind etwas verwundert,
Weil kein Maikäfer zu sehn.
Sechs Billionen zwölf Milliarden –
Schätzungsweise – fragen sich:
Wo steckt Maximilian Harden.
Nun, verflucht, was kümmert's mich.
Vier Trillionen neun Billionen
Zirka siebenhundertelf
Milliarden fünf Millionen
Achtzehntausend hundertzwölf – –
Und ich könnte das erweitern
Bis in die Unendlichkeit,
Doch ein Dichter tritt den heitern
Frühlingszarten Mai nicht breit.
Sondern trinkt, sich selbst beschränkend,
Maienbowle, Maienkraut,
Seines Redakteurs gedenkend,
Dem er voll und ganz vertraut.
Clarisse1 - 3. Mai, 13:35
Max Dauthendey (1867 – 1918)
Erster Mai.
Alle Wiesen keimen,
Alle Vögel reimen,
Kleine Blumen scheinen,
Mädchen in lachendem Schwarm,
Tausend Sonnen warm.
Mai, du machst mich arm,
Ich muß niederknien,
In meine Hände weinen.
Clarisse1 - 1. Mai, 11:49
von John Brinckman (1814 – 1870)
De Mai, de Mai is kamen;
nu gah wi, jung un olt,
nu gah wi alltosamen
in't Holt, in't gröne Holt.
Nu frische Maien hal wi
un stäk' se an üns' Höd,
nu sett' in't Holt üns dal wi
un sing' üns' ollen Leed;
een jeder nah sin Gaben,
in eens noch eens so schön,
bet dat de Stirn dor baben
sick wisen een bi een.
Un wenn't dorœwer Nacht ward,
wat heet, wat deit dat grot,
wu sungen, küßt un lacht ward?
Kumm, sett di up min'n Schot!
De Busch, de Busch so dicht hier,
so warm de gröne Nacht;
de Flämmstirn, de gäw' Licht hier,
mihr, as wi bruken, sacht;
dat Männken sik to Wiwken
un Münd to Münd sick finnt,
min Arm sick üm din Liwken,
din üm min'n Hals sick winnt.
Nu sett di to üns her eens
in't Moß, Fru Nachtigall,
nu kumm un sing üns vör eens
din Hochtitsleeder mal!
Clarisse1 - 1. Mai, 11:45
von Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910)
Maikater singt die ganze Nacht:
Der Frühling ist erwacht, erwacht,
Der Frühling ist erwacht!
Gleich einem Reis trägt er den Schwanz;
Wärn Blätter dran, so wärs ein Kranz;
Er flötet:
Oh holde Mimamausamei,
Wer dich zu lieben wagt, der sei
Getötet!
Ich ganz alli-alla-allein,
Nur ich darf dein Geschpusi sein,
Bis daß es morgenrötet.
Im Mai sind alle Blätter grün,
Im Mai sind alle Kater kühn
Und alle Jüngelinge.
Und wer ein Herz hat, faßt sich eins,
Und wär sich keins faßt, hat auch keins;
Singe mein Kater, singe!
Clarisse1 - 1. Mai, 10:29
Wenn man sich Maitag vor Sonnenaufgang nackend im Thau wälzt, so wird man dadurch befreit von jeder Krankheit, welcher Art sie auch sein mag. (Aus Warlow bei Ludwigslust. Seminarist Zengel.)
Aus: Gebräuche und Aberglaube – gesammelt von Karl Bartsch (1832 – 1888)
Clarisse1 - 1. Mai, 10:20
Gefühl und Vernunft sind die Sonne und der Mond am moralischen Firmament. Immer nur in der heißen Sonne, würden wir verbrennen, immer nur im kühlen Mond, würden wir erstarren.Friedrich Maximilian Klinger (1752 – 1831)
Clarisse1 - 28. Apr, 21:47
von Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (1748 – 1828)
Um seinen Büchersaal zu sehn,
Besuchten wir den Herrn von Zahren,
Allein er ließ uns wieder gehn,
Vermuthlich, weil wir keine Motten waren.
Clarisse1 - 28. Apr, 11:46
von Aloys Blumauer (1755 – 1798)
Thrax tapeziret alle seine Wände
Mit Büchern aus, in die er niemals schaut:
So schrieben einst der alten Weisen Hände
Der größten Weisheit Schatz auf eines Esels Haut.
Clarisse1 - 28. Apr, 10:15
Der Gedanke forderte die Sprache heraus. Ein Wort gab das andere.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 27. Apr, 12:23
Die Arbeit der philosophischen, theologischen, politisch-pathologischen Volksführer ist fast durchaus, Rauch zu machen und darin Gespenster und Schreckgestalten zu zeigen, damit man sich an ihre Heilande halten soll, von denen immer einer schlechter ist als der andere.Johann Gottfried Seume (1763 – 1810)
Clarisse1 - 24. Apr, 17:55
"[. . .} Na ja, es ist ganz bequem, eine Besessenheit zu haben. Man braucht da nicht nachzudenken, was man tun soll, man muß etwas tun, ob man will oder nicht. Das ist so wie bei einer Staatsanstellung, man muß in das Bureau, ob man will oder nicht. Ich habe meiner Besessenheit jetzt den Abschied gegeben."
Aus: Eduard von Keyserling (1855 – 1918): Wellen. 1911.
Clarisse1 - 24. Apr, 12:01
[. . .] Seine Besessenheit sammelte sich in dem einen Punkt. Jeder Blick forschte greulich, jedes Wort sondierte, hinter jeder Zärtlichkeit und Berührung war die eine Frage. Sie wich aus; er wurde rasend. Sie wollte ihn besänftigen; er warf sich hin und küßte ihre Füße. Sie erbarmte sich und täuschte ihn für die Dauer einiger trunkener Stunden mit den frei erfundenen Einzelheiten einer platonischen Schwärmerei. Er schien zu glauben, warb um Verzeihung, verhieß Besserung, Schweigen, Schonung. Aber es verstrich kein Tag, und das Unwesen begann von neuem. Sein Auge war vom Mißtrauen geätzt; Christian Wahnschaffe war der Feind, der Dieb, der Widersacher. Was war zu der und der Zeit? Was hast du ihm da und da gesagt? Was hat er geantwortet? Woher kam er? Wohin ging er? Hat er das Letzte von dir verlangt? Hast du ihn geküßt? Einmal? Viele Male? Hast du gewünscht, daß er dich küsse? Wo warst du allein mit ihm? Wie sah das Zimmer aus? Was für ein Kleid trugst du? Rettungslos; eine Schraube, die sich einbohrt. Johanna stieß ihn von sich. Sie höhnte; sie seufzte; sie schlug die Hände vors Gesicht; sie weinte; sie lachte; und sie wich nicht um Haares Breite.
Aus: Jakob Wassermann (1873 – 1934): Christian Wahnschaffe. Berlin: S. Fischer 1919.
Clarisse1 - 24. Apr, 11:27
Faulheit ist Dummheit des Körpers, und Dummheit Faulheit des Geistes.Johann Gottfried Seume (1763 – 1810)
Clarisse1 - 24. Apr, 10:14
Die Geschichte scheint mir fast zu bürgen, daß die Menschen keine Vernunft haben.Johann Gottfried Seume (1763 – 1810)
Clarisse1 - 24. Apr, 10:10