Vermischtes
von Anonym [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Da sagen die Leute immer, der moderne Verkehr hebe alle Poesie auf. Das ist gar nicht wahr. Ich meine nicht die Romantik der Eisenbahnen, eines Bahnhofs bei Nacht und all der Dinge, in denen Gott Maschine eine beängstigende Rolle spielt. Nein, auch die Idylle ist noch nicht ausgestorben.
Ich stand vorn auf der Plattform eines Wagens der elektrischen Straßenbahn zu Berlin. Ich war mit dem Fahrer allein, – und wir sausen so die schnurgerade Straße herauf bis zur Haltestelle. Da stieg ein Mann auf, mit einem fröhlichen, roten Gesicht, blauen Augen, in ganz anständiger Kleidung. Wir fuhren weiter … "Na", sagte auf einmal der Mann zu dem Fahrer, "ick habe auch ma jefahren bei euch!" – Das durfte er aber gar nicht sagen, denn die Unterhaltung ist strengstens verboten. Er tats aber doch. Und der Fahrer überschritt seinerseits auch die Schweigevorschrift, drehte sich interessiert um und sprach: "So? – Wo denn?" Der andere nannte die Linie, und gleich begannen sie sich über die Einzelheiten des Dienstes zu unterhalten, über die strengen Vorgesetzten, über die Gewohnheiten, die Handgriffe des Personals, – und es hagelte Fachausdrücke und mir unverständliche Abkürzungen … Der Wind pfiff uns um die Ohren, – alles konnte ich nicht hören. Aber einmal, da leuchteten dem Zivilisten die Augen. Sie sprachen von der Schnelligkeit der verschiedenen Wagen. – Das hatte ich nun wieder nicht gewußt, daß nicht alle Wagen gleich schnell fahren. Nein, das taten sie nicht. "Mensch", sagte er, "wie fährt denn die Nummer 6734?" – Die Nummer wußte er auch noch! – "Das war ein Renner!" – Und von 6714 wußte er noch und von 6857 und 4532 – das waren die Wagennummern, die hatte er behalten! – Und als sie alle alten Erinnerungen ausgetauscht hatten, – da bat er den Kollegen: "Laß mich doch noch einmal fahren!" – Und weil er gar so bat, tat ders – obgleich er geflogen wäre, wenns herausgekommen wäre. Und stolz trat der Zivilist an den Führerstand und drehte die Kurbel und bremste und ließ den Wagen laufen, wie dunnemals, als er noch Fahrer war.
Clarisse1 - 18. Nov, 13:35
von Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Abends, wenn ich im Bett liege, muß ich mich immer so ééérgern … (Merk: ärgern – das ist böse und einmalig; ééérgern aber ist lange, sanft, süß-sauer und überhaupt.) Ich muß mich so ééérgern, weil sich wieder achtmal etwas ereignet hat, das ich da benannt habe: Die Technik spielt. Denn wir sind schrecklich weit fortgeschritten. Wir können von Berlin nach San Francisco telefonieren. Wir können in die Stratosphäre steigen. Die Leute können im Flugzeug über dem Atlantischen Ozean ein Rundfunkkonzert hören. Nur eine Schreibmaschine anständig reparieren, das können sie nicht. Oder eine Schraube am Auto so anziehen, daß sie länger hält als vierzig Kilometer, das können sie auch nicht. Und in jeder Wohnung ist immer grade etwas entzwei, und „Ich habe schon dreimal telefoniert, aber …“ Das können sie alles nicht. Die Technik spielt. Sie bauen immerfort neue Modelle – aber die alten funktionieren nicht richtig, und es gibt auch keine richtigen Ersatzteile … Ich habe den falschen Beruf erwählt. Ein Schriftsteller muß anständige Ware liefern. Man hätte sollen Schlosser werden oder Schreibmaschinenmann oder so etwas … die liefern ihren Schund, oder sie liefern ihn auch nicht, wie es ihnen grade einfällt, und bezahlen bezahlen wir doch. Die Technik spielt. Und ich muß mich so ééérgern. Und nun wollen wir uns eins lesen. […]
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Aus: Auf dem Nachttisch (1930)
Clarisse1 - 23. Okt, 16:37
von Kaspar Hauser [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Daß die wichtigsten Dinge durch Röhren
gethan werden. Beweise: erstlich die
Zeugungsglieder, die Schreibfeder und
unser Schießgewehr. Lichtenberg
Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.
Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt werden. Loch ist immer gut.
Wenn der Mensch 'Loch' hört, bekommt er Assoziationen: manche denken an Zündloch, manche an Knopfloch und manche an Goebbels.
Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finstern, stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat, sie werden hineingesteckt, und zum Schluß überblicken sie die Reihe dieser Löcher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstraße ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch grade aus diesem gekommen? Ein paar Löcher weiter, und das Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen.
Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs . . . festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsre Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne.
Das Loch ist statisch; Löcher auf Reisen gibt es nicht. Fast nicht.
Löcher, die sich vermählen, werden ein Eines, einer der sonderbarsten Vorgänge unter denen, die sich nicht denken lassen. Trenne die Scheidewand zwischen zwei Löchern: gehört dann der rechte Rand zum linken Loch? oder der linke zum rechten? oder jeder zu sich? oder beide zu beiden? Meine Sorgen möcht ich haben.
Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? Drückt es sich seitwärts in die Materie? oder läuft es zu einem andern Loch, um ihm sein Leid zu klagen – wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiß das: unser Wissen hat hier eines.
Wo ein Ding ist, kann kein andres sein. Wo schon ein Loch ist: kann da noch ein andres sein?
Und warum gibt es keine halben Löcher –?
Manche Gegenstände werden durch ein einziges Löchlein entwertet; weil an einer Stelle von ihnen etwas nicht ist, gilt nun das ganze übrige nichts mehr. Beispiele: ein Fahrschein, eine Jungfrau und ein Luftballon.
Das Ding an sich muß noch gesucht werden; das Loch ist schon an sich. Wer mit einem Bein im Loch stäke und mit dem andern bei uns: der allein wäre wahrhaft weise. Doch soll dies noch keinem gelungen sein. Größenwahnsinnige behaupten, das Loch sei etwas Negatives. Das ist nicht richtig: der Mensch ist ein Nicht-Loch, und das Loch ist das Primäre. Lochen Sie nicht; das Loch ist die einzige Vorahnung des Paradieses, die es hienieden gibt. Wenn Sie tot sind, werden Sie erst merken, was leben ist. Verzeihen Sie diesen Abschnitt; ich hatte nur zwischen dem vorigen Stück und dem nächsten ein Loch ausfüllen wollen.
In: Die Weltbühne (1931)
Clarisse1 - 8. Okt, 13:26
Neuestes Experiment für Individual-Psychologen
von Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Mache diesen Versuch:
Bitte eine dir bekannte Frau, eine Nadel einzufädeln. Sie wird es tun – und dabei wird sie den Faden in das Nadelöhr hineinstecken.
Bitte einen dir bekannten Mann, eine Nadel einzufädeln. Er wird es, nach anfänglicher Verwunderung, tun („Wozu? Was soll denn das? Können Sie das nicht selbst?“) – und dabei wird er die Nadel über das Faden-Ende stülpen.
Dieses erfüllt mich mit größter Verwunderung. Warum ist das so? Warum ist das immer so? Liegt hier ein tiefer Unterschied zwischen der weiblichen und der männlichen Natur begründet? Was ist es? Welches Symbol liegt da verborgen? Warum stülpen die Männer, wenn es nicht grade Schneider sind, oder Leute, die berufsmäßig mit winzigen Gegenständen zu hantieren haben? Warum fädeln nur die Frauen ein? Weil man es ihnen so beigebracht hat? Aber man hat ihnen doch mancherlei beigebracht, und sie benutzen oft ihre eigene Methode und handeln nach ihrem eigenen Kopf! Was geht hier vor sich –?
Ist es vielleicht, weil der Mann einst das Schwert geführt hat, und nun das metallische Glitzern der Nadel … (nach Belieben auszufüllen). Und die Frau, liebt sie die Präzisionsarbeit, das treu sorgende Element, welches … (nach Belieben auszufüllen)? Es ist eine ganz erstaunliche Sache, ich traue mich gar nicht mehr, jemand danach zu fragen, denn das Gefädel ist schon nicht mehr zu ertragen. Wer wird mir das erklären?
Von den Experimental-Psychologen laßt uns nicht sprechen. Nadel und Faden … wenn das herauskommt, daß das Experiment wirklich neunhundertundneunundneunzigmal von tausend wirklich, wie oben beschrieben, verläuft –: was läßt sich da alles schlußfolgern! Jeder Arzt, der auf sich hält, wird künftighin ein Heftchen Nadeln und einige Fäden auf seinem Tisch liegen haben, und er wird zu den Patienten sprechen: „Bitte, fädeln Sie mal ein!“, und Gnade Gott, wenn dann eine Frau die Nadel über den Faden stülpt oder ein Mann richtig fädelt –! Es ist gar nicht auszudenken, was dann alles geschieht …
Es ist ein tiefes Geheimnis. Seit Wochen bilde ich den Schrecken meiner Umgebung; ich trage, wo ich gehe, stets Nadel und Faden bei mir, und ich sage abwechselnd zu Lottchen, dem londoner Schutzmann an der Ecke, zu meiner Amme und zum Frisör: „Würden Sie bitte mal diesen Faden in diese Nadel einfädeln?“ Der Forscher muß viel leiden, und es hat schon manchen Kummer gegeben; aber schließlich, wenn sie alle ihren Vers mit: „Sagen Sie mal – bei Ihnen piekt es wohl?“ aufgesagt haben, dann fädeln sie ja doch. Die Frauen mit dieser blitzschnellen Bewegung des Fadens zur Zungenspitze, sie feuchten ihn an, und, schwupps, haben sie ihn eingefädelt. Die Männer lachen immer erst ein bißchen, so, wie einer lacht, wenn ihm was schief gegangen ist, sie wälzen ihre Ungeschicklichkeit auf mich ab, ich lasse mir das auch still gefallen, und dann fädeln sie ein. Es dauert. Den Rekord hat Karlchen geschlagen – er hat genau dreiunddreißig Minuten gefädelt, und dabei hat er auch noch gemogelt. Und natürlich hat er gestülpt. Wenn die Versuchsobjekte fertig sind, dann halte ich ihnen einen kleinen Zettel entgegen, auf dem steht: „Frauen fädeln, Männer stülpen.“ Dann sagen die Objekte: „Sie sind ja völlig übergeschnappt!“ – und dann versuchen sie es noch einmal, aber nun sind sie befangen, ihre Hände zittern; bei den Männern geht es noch viel schlechter als das erstemal – und meist tun sie dann, nun grade, das Entgegengesetzte. Aber das gilt nicht.
Es ist ein tiefes Geheimnis. Regen sich atavistische Ur-Ur-Ur-Ur-Instinkte? Aber die Neandertal-Menschen haben doch nicht gefädelt, oder doch? Mit Bronze-Nadeln? Und haben ihre Frauen gefädelt? Und haben die Männer gestülpt? Und was bedeutet das alles –?
Frauen fädeln. Männer stülpen. Machen Sie den Versuch – aber verstecken Sie vorher Ihren ‚Uhu’ –!
Erstmals erschienen am 1. Oktober 1931 in: Uhu, Nr. 1, S. 97.
Clarisse1 - 6. Okt, 13:02
Freitag, 21. September 2007
von Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Er liegt im Nordosten von London: Sie fahren mit der gut gelüfteten Untergrundbahn hin, das ist am billigsten. Wenn Sie oben sind, ein Stückchen rechts … und noch ein Stückchen rechts … und da, wo der Schutzmann steht, ist der Markt, der Caledonian Market.
Auf einem großen eingezäunten Platz stehen die Händler, vor sich die Ware meist auf die Erde gebreitet, auf Tücher oder auch auf kleinen Tischen. Was es da gibt –? Bitte, fragen Sie, was es nicht gibt.
Es gibt:
Silberwaren, versilbertes Alfenid, verzinktes Silber, garantiert echtes Silber, gestempeltes Silber. Großvaterstühle, Nachtstühle, gewöhnliche Stühle. Neue Gebisse. Ganz leicht gebrauchte Gebisse. Kinderwagen-Ersatz-Räder. Alte Stiefel sowie ein Bild des Generals Kitchener. Noch viel mehr alte Stiefel. Eingeweide von Sofas, Schauerliches Nippes aus Original-Kitschwood. Ein lebendiger kleiner Junge steht in einem überlebensgroßen Goldrahmen: man weiß nicht genau, wer von beiden zu verkaufen ist. Delfthundchen. Nachttöpfe. Ein Quadratkilometer Bücher. Schnürsenkel sowie Bonbons und Limonaden – merkwürdig, daß alle billigen Dinge auf der Welt so schreiende Farben haben!
Wenn man die gerade gezogenen Gänge alle herauf- und heruntergehen wollte: diese Meilen zu bewältigen, würde Stunden dauern. Es hört nie auf.
Diese Kleinhändler kaufen unter anderem alten Hausrat auf, ich sehe sie auf den Boden gehen und mit einem mißmutig-prüfenden Blick das ganze Gerümpel überblicken. „Drei Pfund“, sagen sie. Wenn ich sie aber frage, was der alte Zinnkrug da kosten soll, dann loben und preisen sie ihn, streicheln ihn mit den Blicken und sagen: „Beautiful, indeed!“ Und er kostet siebzehn Schillinge, gut und gern.
Aber das ist nun auch alles, was sie sagen. Sie strampeln nicht, sie preisen nicht übermäßig an – es ist der leiseste Markt, den ich jemals getroffen habe. Manchmal hörst du einen Ausrufer, er ruft seine Worte aber mehr für seine Waren und über seine Waren aus, damit die wissen, was sie wert sind – um die Käufer kümmert er sich scheinbar gar nicht. Manchmal ein Grammophon. Horch!
“And the Germans say: Ja – ja!
and the Frenchmen … “
Leise schieben sich die Leute an den aufgehäuften Waren vorbei – es ist fast nichts zu hören, welch ein leises Volk! Falsch. Im Theater braust das Publikum, dieses dankbarste Theaterpublikum … fast hätte ich gesagt: Europas, aber England liegt nicht in Europa, das ist ein geographischer Irrtum. England liegt in England. Beim Boxen neulich, in Blackfriars Ring, welch ein Klamauk! Aber hier, auf dem Markt, da sind sie leise – man darf gar nicht an südländische Märkte denken – nicht an den pariser Flohmarkt … hier ist es still, ganz still. Mich wundert, daß nicht an einem Stand Schweigen verkauft wird: ironisches Schweigen; lüsternes Schweigen; dummes Schweigen; beredtes Schweigen, noch wie neu – aber Schweigen wird nicht verkauft.
Ob ich etwas gekauft habe –? Nein, ich habe nichts gekauft. Alles, was ich gesehen habe, fand ich mäßig und teuer. Seid ihr auch so mißtrauisch, wenn euch einer erzählt, er habe auf so einem Markt eine echte chinesische Vase, dreiundzwanzigste Kung-Dynastie nach Christi Geburt, gefunden, der Ochse, der Händler, habe das natürlich nicht gewußt, welches Kleinod …? Hier, sehen Sie mal an! Für vier Schilling! Hm. Margarete zeigte mir nachher ein Silberschälchen, das hatte sie da erstanden, für ein Butterbrot – dabei essen die Engländer doch gar keine Butterbrote. Margarete glaubt an ihre Silberschale und hält sie für Silber. Sie trägt einen kleinen Stempel auf dem Bauch, die Schale. Aber wer kennt sich in den englischen Gewichten aus –! Die Engländer haben für alles ihre eigenen Maße, und daß sie die Jahre nach Jahren rechnen, daß das englische Jahr nicht dreizehn und einen halben Monat hat, das ist ein großes Wunder. Die Schale war wohl vier Yard schwer und sollte eine Guinee kosten, was natürlich einundzwanzig Schilling bedeutet – es ist gar nicht so einfach im englischen Leben.
Dieser Markt findet sicherlich schon seit Wilhelm dem Eroberer statt. Alle besseren Sachen in England datieren aus dieser Zeit und werden infolgedessen auch nicht geändert. Und wenn man näher zusieht: auf diesem Markt, im Parlament und anderswo, dann stellt sich leise, ganz leise heraus, daß die meisten Dinge hier ihre endgültige Form angenommen haben. Ändern sie sich –? Manchmal ändern sie sich auch. Aber sie ändern sich in England nie mit einem Ruck, sondern langsam, fast, ohne daß man es merkt – schweigend. Es wird gehandelt, daß es nur so raucht – schweigend. England hat die stillste Börse der Welt; kennen Sie das Gebrüll um die pariser Börse? So ist die englische Börse nicht.
Aber natürlich kann man nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Wie stände ich dann vor meinen Bekannten da?? Da habe ich denn etwas gekauft, was man in jedem Haushalt dringend gebraucht –: einen londoner Souffleurkasten. Raten Sie, was ich gegeben habe! Die Hälfte. Er ist ein Prachtstück. Ich weiß nur noch nicht, was ich damit anfangen soll. Immerhin ist er eine schöne Erinnerung an den Caledonian-Markt.
Anmerkung: Londoner Theater haben keine Souffleurkasten.
Clarisse1 - 21. Sep, 14:25
von Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
In Wells …
Nein, nicht Wales – Wales ist, wenn er gut angezogen ist. In Wells …
Auch nicht: well – das ist das, was die Engländer sagen, um erst einmal den nötigen Vorschlag des Satzes zu haben; denn hier fängt kein Mensch seinen Satz mit der Hauptsache an. Die Hauptsache steht im Nebensatz. Ich habe neulich in London einen jungen Herrn gefragt, ob hier, an dieser Stelle, wo auch er warte, der Omnibus 176 halte. Was sagte er? "I hope so", sagte er. Ja wäre zu bestimmt gewesen, man kann nie wissen, vielleicht hält er nicht, und die englische Sprache, die so präzis sein kann, liebt die zierlichen Hintertüren, nur so als Notausgang, sie macht wohl selten von ihnen Gebrauch. Sie setzt aber gern hinzu, daß und wann es ganz ernst wird. "Was ist der Unterschied", fragte neulich in einer Revue einer, "zwischen einem Schutzmann und einer jungen Dame? – Wenn der Schutzmann 'Halt' sagt, dann meint er das auch." Also in Wells.
Wells ist eine kleine süße Stadt im Somersetschen. Das kann man aber nicht sagen; man sagt wohl: im Hannöverschen – aber es heißt: in Somerset. Wells hat eine schöne Kathedrale und so eine geruhige Luft …! Dabei ist die Stadt nicht traulich, sie ist brav und beinah modern und ordentlich, und alles stimmt, und es ist so nett da!
Da spaziere ich also herum und sehe mir statt der Sehenswürdigkeiten die Schaufenster an, das sind so meine Sehenswürdigkeiten, man kann da immer eine Menge lernen. Bei einem Antiquar stand Glas im Fenster, und wenn Glas im Fenster steht … wie sagt ein altes berlinisches Couplet? "Wer Bildung hat, wird mir verstehn!" Ich kaufe also in Gedanken alles Glas, was da steht – und schließlich sehe ich zwei dunkelgrüne, bauchige, lustige Flaschen. Sie haben ein metallnes Etikett um den Hals gehängt, alle beide, auf der einen steht:
Whisky
und auf der andern:
Gin.
Gin ist ein entfernter Stiefzwilling von Genever – und was Whisky ist, weiß jeder bessere Herr. Und weil mein Whisky immer in diesen langen Flaschen wohnt, in denen man ihn kauft, so beschloß ich, diese grüne Flasche, die, wie man sofort sehen konnte, mit Vornamen Emilie hieß, käuflich zu erwerben. Hinein.
Die Engländer haben eine unsterbliche Seele und schrecklich unregelmäßige Verben. Ich sagte einen Spruch auf – wenn das mein englischer Lehrer gehört hätte, hätte er mich bestimmt hinter die Ohren gehauen. Aber der Verkäufer verstand mich, er sagte viel, was ich verstand, und noch einiges, was ich nicht verstand – diese Engländer haben manchmal so einen komischen Akzent, wie? Und nun begann der Handel.
Sehr teuer war die Flasche nicht. ("Was hast du gegeben? Mich interessiert das nämlich, ich habe nämlich meinem Mann auch so eine Flasche …" – Sei doch mal still. Du immer mit deinen Zahlen!) Teuer war sie nicht. Aber, aber:
Diese Whisky-Flasche war nicht allein zu haben. Sie war ein Illing – man mußte die Gin-Flasche dazu kaufen. "Warum –?" fragte ich den Mann. (Dies war der einzige ganz richtige Satz, den ich in dieser Unterhaltung von mir gegeben habe.) Warum –? Und da gab der Mann mir eine Antwort, die so schön war, daß ich sie hier aufschreiben muß, eine Antwort, mit der man ungefähr halb England erklären kann, wenn es einen danach gelüstet. Man hätte denken können, er werde antworten: weil ich die andere nicht allein verkaufen kann. Oder: weil ich dann mehr verdiene. Oder: Diese beiden Flaschen und diese sechs Gläser und dieses Tablett bilden eine Garnitur … ich kann sie nicht auseinanderreißen. Nichts davon – Gläser und Tablett waren ja auch gar nicht da. Der Mann sagte:
"Because they were always together." Weil sie immer zusammen waren.
In dieser Antwort ist alles, was im Engländer ist: die unverrückbare Festigkeit, mit der Gefügtes stehen bleibt, bis es von selber einfällt, zum Beispiel. Because they were always together. Weil sie immer zusammen waren, sind sie denn auch noch heute zusammen: der Engländer und sein Cricket, jener für den Fremden völlig rätselhafte Vorgang, ein Mittelding zwischen Schachspiel und Religionsübung; zusammen sind der Mann und die Farbe seiner Universität; zusammen der Herr und der Frack, wenn es Abend wird; der Richter und seine Perücke; das Land und die Macht. Because they were always together.
Und da ergriff mich ein Rühren, ich dachte, was geschehen könnte, wenn ich die Flasche Emilie von der Flasche Martha risse, wie Martha weinen würde, und daß ich das nicht alles verantworten könnte. Und da habe ich sie alle beide gekauft. Because they were always together.
Möchte vielleicht jemand die andere Flasche haben –?
Clarisse1 - 21. Sep, 12:02