Montag, 12. März 2007

Frühling

Paris, 2e, 22 rue de Grammont
Hôtel Grammont
Nr. 7

[. . .] Paris Goldgrube, weil so viel Feuilletonstoff [. . .]
Ja – also mich hats. Es ist nichts vorgefallen – aber seit vorgestern bin ich blau wie ein Baumaffe. Mich hats ziemlich. Nämlich so:
Am heiligen Ostersonntag waren wir im Bois: Grosz und Frau und ein reizender, famos aussehender Junge, der früher an der ›Kölnischen Zeitung‹ war und jetzt Kaufmann ist, mit seiner Frau. Der Junge war entzückend, aber sonst war es zum Kognaktrinken. Mehr Menschen als Bäume – ein Rummel – schrecklich. An einer Stelle, die ungefähr (aber sehr ungefähr!) unserm Großen Stern entspricht, verabschiedete ich mich und schob ab, um auf meinen Tee zu gehen. Diese alte Dame, von der ich Dir schon geschrieben habe, wohnt in einer sehr feinen Gegend, mit ganz stillen Straßen. Und da habe ich angefangen, zu verstehen, was das ist: pariser Frühling. Das ist nicht zu übertragen. Sanft ist er nicht, weich auch nicht – doux ist vielleicht das beste Wort. Man geht wie auf Samt. Häuser, Wolken, Türme – alles hat seine Konturen verloren – ist ganz, ganz zart und süß – genau umgekehrt wie in Kurland – unbeschreiblich. Ich habe mich sehr genau kontrolliert: ich habe ein Hühnerauge und keine Wohnung – es ist alles ganz egal. Ich bin nach dem Tee völlig idiotisch umhergelaufen, habe irgendwo gegessen und bin dann ins Theater gegangen, durchaus nicht mehr bei mir. Und gestern . . .
Gestern war ich auf einem Rummelplatz, aber das ist ein dummes Wort. Da ist eine »foire des pains d'épice« mitten auf einem großen Platz und den anliegenden Straßen, etwa Belle-Alliance-Platz und Friedrichstraße. Ein Mordsklamauk – und darüber dieses zauberhafte Licht, das sich nicht beschreiben läßt. Jarosy hatte mir gesagt: »Passen Sie auf, jetzt kommt die Zeit, wo Sie ganz verliebt in Paris umhergehen werden!« – Ich war fest entschlossen, das nicht zu tun. Alle Welt hatte mir vorgesungen: Der pariser Frühling! – und ich käuzte mich davor. Frühling – das ist bei uns – und für meinen Geschmack auch in Kurland – eine dumme Sache: in hellblauen Lachen lärmen die Spatzen, alles ist grien, und der Lenz, der lange Lulatsch, stelzt durch den Laden und ist lieblich. Feu! Hier war das ganz anders. Es ist sehr schwer, darüber zu schreiben – wenn ich so einen Brief nach Berlin kriegte, so würde ich sofort nach dem substantiellen Hintergrund dieser gesteigerten Lebensfreude suchen: Weiber, Bilder, Wein, Bäume, Theater. Es ist nichts von alledem. Es ist auch nicht alles zusammen. Es ist das Licht, dieses zauberhafte Licht, und dann irgend etwas, für das ich zum Glück noch keine Worte gefunden habe. Es ist auch keine Freude: es ist einfach ein gesteigertes Lebensgefühl. Es ist Gnade, daß du da gehen darfst – ganz gleich, wo. Ich kroch da eine alte häßliche Mauer entlang – und war selig. Es ist ein Märchen. [. . .]

Kurt Tucholsky an Mary Gerold-Tucholsky, 22.04.1924

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HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

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