Freitag, 9. Januar 2009

Die Raupe und der Schmetterling

von Johann Gottfried Herder (1744 – 1803)

Freund, der Unterschied der Erdendinge
Scheinet groß und ist so oft geringe;
Alter und Gestalt und Raum und Zeit
Sind ein Traumbild nur der Wirklichkeit.

Träg und matt auf abgezehrten Sträuchen
Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen,
Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei,
Daß er Raupe selbst gewesen sei.

Traurig schlich die Alternde zum Grabe:
»Ach, daß ich umsonst gelebet habe!
Sterbe kinderlos und wie gering!
Und da fliegt der schöne Schmetterling.«

Aengstig spann sie sich in ihre Hülle,
Schlief, und als der Mutter Lebensfülle
Sie erweckte, wähnte sie sich neu,
Wußte nicht, was sie gewesen sei.

Freund, ein Traumreich ist das Reich der Erden.
Was wir waren, was wir einst noch werden,
Niemand weiß es; glücklich sind wir blind;
Laß uns Eins nur wissen: was wir sind.

Raupenleben

von Luise Hensel (1798 – 1876)

Mir schmeckt von allen Bäumen
Kein einzig Blättlein mehr;
Ich möchte ruhn und träumen,
Als ob ich gar nicht wär'.

Matt schlepp' ich zu der Höhe
Den kranken Leib hinan
Und wo ich Halt erspähe,
Vollend' ich meine Bahn.

Da web' ich mir die Truhe
So heimlich, klar und lind,
Darin ich meine Ruhe
Und Auferstehung find'.

O Mensch, ein wahrer Spiegel
Ist dir mein Lebenslauf:
Auch dir erwachsen Flügel
Und tragen dich hinauf.

Die Raupe

von Adolf Glaßbrenner (1810 – 1876)

Die Raupe auf dem Baume saß,
Und von der Kron' die Blätter fraß –
Ja ja!
Sie war im bunten Kleide,
Als wie von Sammt und Seide,
Ha ha ha ha ha ha!

Ein Staatsminister ging vorbei,
Der sah das Thier und sprach: Ei ei!
Ja ja!
Wie konnt' es ihr gelingen?
'S geht nicht mit rechten Dingen!
Ha ha ha ha ha ha!

Du unbehülflich dummes Thier!
Ich wundre mich, drum sage mir:
Ja ja!
Wie hast du's unternommen,
Und bist so hoch gekommen?
Ha ha ha ha ha ha!

Und als die Raupe blieb nicht stumm,
Da wurd' er roth und dreht sich um.
Ja ja!
Die Raupe hat gesprochen:
Mein Freund, ich bin gekrochen!
Ha ha ha ha ha ha!

Aus: Adolf Glaßbrenner: Verbotene Lieder. Von einem norddeutschen Poeten. Bern: Jenni 1844.

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HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

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