Montag, 3. September 2007

"Mitesser" im Zellengewebe des Denkens

Die meisten Menschen sprechen nicht, zitieren nur. Man könnte ruhig fast alles, was sie sagen, in Anführungsstriche setzen; denn es ist überkommen, nicht im Augenblick des Entstehens geboren.Es gibt nichts Hemmenderes als Gemeinplätze und Redensarten. Jede Redensart ist die Fratze eigener Gedanken, ein "Mitesser" im Zellengewebe des Denkens.Alles Schwätzen hat zur Grundlage die Unwissenheit um Sinn und Wert des einzelnen Wortes. Für den Schwätzer ist die Sprache etwas Verschwommenes. Aber sie gibt's ihm genug zurück: dem "Verschwommenen", dem "Schwimmer".Christian Morgenstern (1871 – 1914)

Sonntag, 2. September 2007

Noch mehr zum Thema "Schlaf"

Einen Menschen aus dem Schlafe wecken, heißt ein Meuchelmörder der Natur sein!Bei geschlossenen Fenstern schlafen und so die Luft, die der Organismus als für seine Zwecke unbrauchbar ausatmet, wieder einatmen müssen, heißt ein i d i o t i s c h e r
S e l b s t b e t r ü g e r sein!
Peter Altenberg (1859 – 1919)

Samstag, 1. September 2007

In ein altes Stammbuch

von Georg Trakl (1887–1914)

Immer wieder kehrst du Melancholie,
O Sanftmut der einsamen Seele.
Zu Ende glüht ein goldener Tag.

Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige
Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn.
Siehe! es dämmert schon.

Wieder kehrt die Nacht und klagt ein Sterbliches
Und es leidet ein anderes mit.

Schaudernd unter herbstlichen Sternen
Neigt sich jährlich tiefer das Haupt.

Freitag, 31. August 2007

Es ist

von Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

Es ist so viel unverbrauchte Zärtlichkeit in Hotelzimmern,
wo sie allein liegen:
ein Mann, oder eine Frau, oder ein angebrochenes junges Mädchen –
in leiser Lächerlichkeit liegen wir allein.

Es ist eine Einsamkeit, umflossen
von den Strömen des städtischen Gases,
des elektrischen Stromes, für alle gemacht,
einer Zentralheizung, eines Zentralessens, einer Zentralzeitung . . .
aber ein kleiner Fleck ist noch da,
auf dem sind wir allein.

Jeder liegt in seiner Schublade.
Die kleinen Härchen auf den Oberarmen schwanken suchend im Luftzug,
wie die Greifer der Meerespflanzen in strömendem Wasser;
die Haut langweilt sich.

Wenn jetzt einer käme und sagte: "Bitte sehr! ich liege Ihnen zur Verfügung!"
wenn ich jetzt durch die Wand ginge zu meiner Nachbarin –
("Man ist doch keine Hure! ich werfe mein Leben nicht in Hotels weg!" – Kusch.)
– wenn jetzt eine dicke Dame käme, mich im Bad zu massieren;
wenn sich jetzt der Jungen ein verständiger Mann gesellte, der sie nur streichelte . . .
ungenützt ist die Nacht.

Dreivierteleins.
Es kocht in den Röhren des Badezimmers;
badet jemand noch so spät?

Neugierig sind wir auf fremde Körper.
Wie legen Sie abends das Hemd auf den Stuhl? Lieben Sie Fruchtsalz?
Ziehen Sie Ihre Uhr morgens oder abends auf?
Und in der Liebe?
Sind Sie gesund? Verzeihen Sie, ich habe solche Furcht vor Krankheiten –
das ist ein Teil meiner Tugend.

I'm in love again –
nein, das eigentlich nicht:
es sollte nur jemand da sein, an dem ich mich spüren kann.
Warum, 318 (mit Bad) liegen Sie so allein?
Denkbar wäre auch eine Hotelgeisha, die höflich liebt,
und die auf der Rechnung nur als kleiner, diskreter Kreis vermerkt ist –
aber schöner wäre ein Gast.

Warum kommt nie ein Einsamer zu einer Einsamen?
Stolz kriechen wir in unser zuständiges Gehäus,
hygienisch, unnahbar, vernünftig,
allein.

Knips das Licht an, sagt der Schlaflose zu sich selbst
(er duzt sich, weil er sich schon so lange kennt) –
und lies noch ein bißchen.
Du hast zu viel Pfirsich-Melba gegessen, daher solche Gedanken,
Luftblasen auf dem Meer der innern Sekretion.
Du bist überhaupt gar nicht allein. Du hast eine Zeitung. Lies:

8. Fortsetzung – Nachdruck verboten

Schließlich raffte sie ein Spiel Karten auf, kauerte sich neben den Kamin und begann, eifrig und hingegeben zu mischen.
"Ich kam in der Absicht", begann er mit einer nicht ganz festen Stimme, "noch heute um Ihre Hand anzuhalten." Das schöne Mädchen

Donnerstag, 30. August 2007

Mehr zum Thema "Schlaf"

Den Schlaf kann kein Glücklicher schätzen.Nur der Habsüchtige weiß, wie viel kostbare Zeit uns der Schlaf raubt.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)Wie schlafen die Leute –?

Eine Frau, allein.......................im Pyjama
Eine Frau, nicht allein.............im Nachthemd
Ein Mann, allein........................Nachthemd
Ein Mann, nicht allein..............Pyjama.

So eigentümlich ist es im menschlichen Leben. (Protest auf allen Seiten des Hauses.)
Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

An Berliner Kinder
von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)

Was meint ihr wohl, was eure Eltern treiben,
Wenn ihr schlafen gehen müßt?
Und sie angeblich noch Briefe schreiben.
Ich kann's euch sagen: Da wird geküßt,
Geraucht, getanzt, gesoffen, gefressen,
Da schleichen verdächtige Gäste herbei.
Da wird jede Stufe der Unzucht durchmessen
Bis zur Papagei-Sodomiterei.
Da wird hasardiert um unsagbare Summen.
Da dampft es von Opium und Kokain.
Da wird gepaart, daß die Schädel brummen.
Ach schweigen wir lieber. – Pfui Spinne, Berlin!

Schlechtes Schlafmittel

von Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910)

Wenn ich des Nachts manchmal nicht schlafen kann,
Seh ich mich selbst von vorn und hinten an
(Figürlich
Natürlich)
Und wünsche dann noch mehr
Den Schlaf herbei als vorher.

Mittwoch, 29. August 2007

Der Mund im Vollmond scheut sich nicht

von Max Dauthendey (1867 – 1918)

Der reife Vollmond stillt die Nacht,
Er legt die Liebenden sich an die Brust,
Er nährt den Schwur und gibt den Lippen Macht.
Der Mund im Vollmond scheut sich nicht,
Er hebt das schwere Herz ans Licht,
Und Wünsche, die sonst ohne Stimmen gingen,
Singen im vollen Mond, wie Bräute singen,
Befreien lächelnd deine Brust
Und weihen dich der großen Lust.

Dienstag, 28. August 2007

Sinnlichkeit

Der Mann hat den Wildstrom weiblicher Sinnlichkeit kanalisiert. Nun überschwemmt er nicht mehr das Land. Aber er befruchtet es auch nicht mehr.Sie verkürzen sich die Zeit mit Kopfrechnen: er zieht die Wurzel aus ihrer Sinnlichkeit und sie erhebt ihn zur Potenz.Sinnlichkeit weiß nichts von dem, was sie getan hat. Hysterie erinnert sich an alles, was sie nicht getan hat.Karl Kraus (1874 – 1936)

Montag, 27. August 2007

Sprache

Oft überfällt dich plötzlich eine heftige Verwunderung über ein Wort: Blitzartig erhellt sich dir die völlige Willkür der Sprache, in welcher unsere Welt begriffen liegt, und somit die Willkür dieses Weltbegriffes überhaupt.Erst das Wort reißt Klüfte auf, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Sprache ist in unsere termini zerklüftete Wirklichkeit.Christian Morgenstern (1871 – 1914)

Sonntag, 26. August 2007

Das scheue Wort

von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)

Es war ein scheues Wort.
Das war ausgesprochen
Und hatte sich sofort
Unter ein Sofa verkrochen.

Samstags, als Berta das Sofa klopfte,
Flog es in das linke, verstopfte
Ohr von Berta. Von da aus entkam es.
Ein Windstoß nahm es,
Trug es weit und dann hoch empor.
Wo es sich in das halbe, bange
Gedächtnis eines Piloten verlor.

Fiel dann an einem Wiesenhange
Auf eine umarmte Arbeiterin nieder,
Trocknete deren Augenlider.
Wobei ein Literat es erwischte
Und, falsch belauscht,
Eitel aufgebauscht,
Mittags dann seichten Fressern auftischte.

Und das arme, mißbrauchte,
Zitternde scheue Wort
Wanderte weiter und tauchte
Wieder auf, hier und dort.
Bis ein Dichter es sanft einträumte,
Ihm ein stilles Palais einräumte. – –

Kam aber sehr bald ein Parodist
Mit geschäftlich sicherem Blick,
Tauchte das Wort mit Speichel und Mist
In einen Aufguß gestohlner Musik.

So ward es publik.
So wurde es volkstümlich laut.
Und doch nur sein Äußeres, seine Haut,
Das Klangliche und das Reimliche.
Denn das Innerste, Heimliche
An ihm war weder lauschend noch lesend
Erreichbar, blieb öffentlich abwesend.

Samstag, 25. August 2007

Der bittere Kaffee

von Fritz Mauthner (1849 – 1923)

Der Bauer lag im Sterben. Seit drei Tagen wußte es die Bäuerin, seit einer Stunde wußte er es selber. Der Bader war dagewesen und hatte die schiefen Achseln gezuckt und der Schäfer hatte gar versichert: der Bauer überlebt die Nacht nicht.
Der Bauer und die Bäuerin haben siebenundzwanzig Jahre miteinander gehaust, und brav gehaust. Gute Christen und gute Eheleute, gut gegen die Kinder und gut gegeneinander. Gezankt, ja oft, aber nicht mehr als schicklich und recht.
Jetzt sitzt die Bäuerin nicht lange am Sterbelager des Mannes. Sie schüttet das kleine Blechmaß voll Kaffeebohnen in die Mühle und mahlt gemächlich; dann kocht sie den Kaffee auf und gießt ihn in zwei Töpfe; auch Milch dazu.
Der Bauer verschlingt ihre Bewegungen mit den Augen. Er fühlt, wie ihm die Kälte in den Beinen schon bis über die Knie zieht. Aber er hat einen brennenden Wunsch. Seit siebenundzwanzig Jahren tut die Frau die Haut von der Milch in ihren Kaffeetopf. Heute möchte er die Haut haben! Heute nur!
Vielleicht tut sie's heute; und wenn er dann morgen nicht stirbt, wenn er wieder gesund wird, so ist sie die Gefoppte. Aber er ist ein stolzer Bauer und sagt nichts. Er schaut sie nur bittend an. Sie versteht seinen Blick. Aber sie tut die Haut in ihren Topf. Der Bauer stöhnt leise auf.
Die Bäuerin holt aus der Schublade zwei Stücke Zucker. Auch sie denkt nach. Wenn der Bauer jetzt gleich stirbt, anstatt bis morgen zu warten, dann kann sie ein Stück Zucker ersparen oder in ihen Kaffee eins mehr hineinwerfen. Ihm muß es doch einerlei sein, ob er heute stirbt oder morgen. Und ruhig läßt sie beide Stücke Zucker in ihren Topf gleiten; den Kaffee ohne Zucker hält sie dem Sterbenden an den Mund.
"Du, der ist aber bitter."
"Ach was, dir schmeckt nichts mehr! Da könnt' man sich die Beine ausreißen, wär' auch umsonst!"
Könnt'st nicht noch ein Stückerl Zucker 'rein tun?"
"Trink ihn nur so. Hast halt schon den Totengeschmack auf der Zunge. Da hilft aller Zucker der Welt nicht."
Und der Bauer trank mit nassen Augen den letzten Kaffee.

Donnerstag, 23. August 2007

Es ist Nacht

von Christian Morgenstern (1871 – 1914)

Es ist Nacht,
und mein Herz kommt zu dir,
hält's nicht aus,
hält's nicht aus mehr bei mir.

Legt sich dir auf die Brust
wie ein Stein,
sinkt hinein,
zu dem deinen hinein.

Dort erst,
dort erst kommt es zur Ruh,
liegt am Grund
seines ewigen Du.

Mittwoch, 22. August 2007

Größenwahn

Manche haben den Größenwahn verrückt zu sein und sind nur untergeschnappt.Karl Kraus (1874 – 1936)

Dienstag, 21. August 2007

Morgenwonne

von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)

Ich bin so knallvergnügt erwacht.
Ich klatsche meine Hüften.
Das Wasser lockt. Die Seife lacht.
Es dürstet mich nach Lüften.

Ein schmuckes Laken macht einen Knicks
Und gratuliert mir zum Baden.
Zwei schwarze Schuhe in blankem Wichs
Betiteln mich "Euer Gnaden".

Aus meiner tiefsten Seele zieht
Mit Nasenflügelbeben
Ein ungeheurer Appetit
Nach Frühstück und nach Leben.

Montag, 20. August 2007

Lustig quasselt

von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)

Lustig quasselt der seichte Bach.
Scheinchen scheppern darüber flach.
Stumm gegen die Wellchen steht ein Stein,
Sieht – wie mir scheint –
Ernst aus und verweint.

Denn es macht traurig, unbequem zu sein.

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"Es gibt Worte, die nie gesagt werden dürfen, sonst sterben sie ..." – Kurt Tucholsky

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IN MEMORIAM


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HELMUT ZEH

† 1. Juli 2005

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