"Bitte geben Sie mir zwölf Neuerscheinungen – ich möchte damit nach der Scheibe schmeißen!" – das sagt leider keiner; der törichte Wettlauf mit den Schatten geht munter fort, als ob ein Buch dadurch besser wird, daß es eine Bauchbinde: "Soeben erschienen!" ziert!Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Clarisse1 - 20. Sep, 15:40
Satire hat eine Grenze nach oben: Buddha entzieht sich ihr. Satire hat auch eine Grenze nach unten. In Deutschland etwa die herrschenden faschistischen Mächte. Es lohnt nicht – so tief kann man nicht schießen. (1932)Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Clarisse1 - 20. Sep, 10:37
Ich liebe dicke Bücher; man kann sie als Briefbeschwerer benutzen, damit einem im Zugwind nicht die Bogen wegfliegen; man kann andere, kleinere Bücher gegen sie stellen, sie behüten wie Großväter die jungen Kinder … dicke Bücher sind schön. Manchmal kann man auch in ihnen blättern.Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Clarisse1 - 20. Sep, 09:52
von Hedwig Lachmann (1865 – 1918)
Von dem Glanz, der auf dem Morgen lag,
Ging mein Herz in freudigerem Schlag.
Von der Wolke, die am Mittag kam,
Ward er überschattet wie mit Gram.
Von dem Licht, das aus dem Abend quoll,
Ward er bis zu Tränen schwermutsvoll.
Von dem Schimmer, der die Nacht umwand,
Ward er still und selig bis zum Rand.
Clarisse1 - 19. Sep, 16:13
von Maria Luise Weissmann (1899 – 1929)
Er lebte weil er geboren war,
Er fand keinen anderen Grund.
Die Mutter liebte ganz früh sein Haar,
Einmal Eine dann seinen Mund,
Doch war es nicht wichtig und verging
Auch schnell, bevor ers ermessen.
Alles in allem war so gering –
Er hatte als er zu sterben anfing
Sich schon seit Jahren vergessen.
Clarisse1 - 19. Sep, 15:10
von Lisa Baumfeld (1877 – 1897)
... Du aber kennst mich nur, wenn ernst und bleich
mein Wesen ist gestimmt, harmonisch ... gleich ...
Und alles wird in mir: Gedanke, Seele ...
Ahnst du den Sturm, den ich dir scheu verhehle,
Und jene Glut, die in den Pulsen brennt,
Und die man zitternd, schaudernd nur erkennt ...?
Und aller Nerven krankes, heißes Beben ...
Den wilden Fieberdurst in mir nach Leben ...?
Ahnst du, welch toller Wahn mich oft umflirrt?
Sieh' nicht auf mich ... weil mich dein Blick verwirrt ...
Ich will dir beichten:
Oft in schwüler Nacht
Hab' ich ein fernes Märchenland erdacht,
Wo goldigblonde Sommerlüfte kosen
Und blasser Flieder blüht und purpurtrunk'ne Rosen,
Wo alles Klang und Farbe, Duft und Glanz
Und Elfenlied und leichter Elfentanz,
Und alle Brisen süß vom Blumenhauch geschwellt ...
Im Frühlingsschatten' grünlich matt erhellt,
Wo dämm'rig Klingen, dämm'rig Träumen webt,
Ein Elfenpaar sein Märchenleben lebt ...
Das Paar sind du und ich, in duft'gem Liebestraum ...
Vom Ast flockt rosenroth thaufeuchter Blütenschaum
In deine Locken ... weiche Frühlingsthränen ...
Und dir zu Füßen ich.
In traumhaft stillem Sehnen
Schau' ich empor und küsse dein Gewand.
Da legst du lächelnd deine weiße Hand
mir auf die Stirne ...
Laue Lüfte fächeln ...
Ich fühle nichts als dich – dich, dein geliebtes Lächeln ...
Und schau' dir tief und durstig in die Augen,
Um schauernd deine Seele einzusaugen ...
Ringsum ist Stille ... Erd' und Himmel lauscht ...
Da sink' ich an dein Herz, betäubt, berauscht,
Und häng' an dir mit schwerem, langem Kuß ...
Und alles rings versinkt, wird Flamme, Glut, Genuß ...
Ich weiß nichts mehr von mir ...
Fernher tönt leises Singen ...
Lass' mich in diesem Kuß ... vergeh'n ...
verglüh'n ... verklingen ...
Clarisse1 - 19. Sep, 10:40
Die meisten Schriftsteller wären mehr gelesen, hätten sie weniger geschrieben.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 18. Sep, 20:02
Es gibt Sätze, die hat ein anständiger Schriftsteller nicht zu schreiben; wer es doch tut, ist keiner, vergessen sei sein Name, nie behalten sei sein Name.Peter Panter [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Clarisse1 - 18. Sep, 10:05
von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)
Vielleicht, daß ein Unverstandenes
Oder ein gar nicht Vorhandenes
Dich verdroß.
Und nun möchtest du heimlich erschießen
Und noch den Schrei genießen:
"Das war Tells Geschoß!"
Aber ein Pup ist kein Blitz.
Du mußt dich schon anders entladen.
Du mußt deinen eigenen Schaden
Riskieren und Mut verraten
Oder wenigstens Witz.
War's aber eine erkannte, bestimmte
Angelegenheit, die dich ergrimmte,
Etwa was Ungerechtes – – –
Ach, wieviel Schlechtes
Tatest du?!
Und klapptest stillschweigend den Deckel zu.
Hau doch in den Kartoffelsalat,
Daß die Sauce spritzt.
Das ist ein schlechter Soldat,
Der Blut erträumt
Und Rache schwitzt
Und vor Wut schäumt
Und dabei auf dem Lokus sitzt.
Oder leg' deinen Zorn, wenn du willst,
Als etwas Echtes, wenn auch nicht Stubenreines,
An deine eigene Brust, daß du ihn stillst,
Wie eine Mutter ihr Kleines.
Nach eines Jahrmarkts letzter Nacht
Ist in wenigen Stunden
Eine ganze Stadt voll blendender Zauberpracht
Kläglich verschwunden.
Clarisse1 - 17. Sep, 15:36
Mancher rächt an einer Frau durch Gemeinheit, was er durch Torheit an ihr gesündigt hat.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 17. Sep, 11:23
Die schlecht verdrängte Sexualität hat manchen Haushalt verwirrt; die gut verdrängte aber die Weltordnung.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 16. Sep, 16:27
von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)
Sonntagskinder sind Arbeitsfreie,
Ungewöhnte. – Der Künstler verzeihe
Ihnen ihr fremdes Geschau.
Sonntagskinder sind plötzliche Fürsten,
Glücklich an Sonne, Dünnbier und Würsten.
Sonntagskinder sind himmelblau.
Kommen erwartend, spaziergangsmüde,
Niemals intolerant oder prüde,
Aber immer um Jahre zurück;
Merken es nicht, wenn die Rampenscheinwelt
Sich auf ihre Müdigkeit einstellt,
Schlafen sich nachtweg ins Wochentagsglück.
Clarisse1 - 16. Sep, 10:53
von August Stramm (1874 – 1915)
Durch die Büsche winden Sterne
Augen tauchen blaken sinken
Flüstern plätschert
Blüten gehren
Düfte spritzen
Schauer stürzen
Winde schnellen prellen schwellen
Tücher reißen
Fallen schrickt in tiefe Nacht.
Clarisse1 - 15. Sep, 17:56
Wieviel wird um Brot und wie wenig als Brot geschrieben.Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Clarisse1 - 15. Sep, 12:57
Ich habe nie einsehen mögen, warum mittelmäßige Menschen deshalb aufhören sollten, mittelmäßig zu sein, weil sie schreiben können.Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Clarisse1 - 15. Sep, 11:27
von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)
Sie sprangen aus rasender Eisenbahn
Und haben sich gar nicht weh getan.
Sie wanderten über Geleise,
Und wenn ein Zug sie überfuhr,
Dann knirschte nichts. Sie lachten nur.
Und weiter ging die Reise.
Sie schritten durch eine steinerne Wand,
Durch Stacheldrähte und Wüstenbrand,
Durch Grenzverbote und Schranken
Und durch ein vorgehaltnes Gewehr,
Durchzogen viele Meilen Meer. –
Meine Gedanken. –
Ihr Kurs ging durch, ging nie vorbei.
Und als sie dich erreichten,
Da zitterten sie und erbleichten
Und fühlten sich doch unsagbar frei.
Clarisse1 - 14. Sep, 17:01
In der Literatur hüte man sich vor den Satzbauschwindlern. Ihre Häuser kriegen zuerst Fenster und dann Mauern.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 14. Sep, 12:40
Im Anfang war das Rezensionsexemplar, und einer bekam es vom Verleger zugeschickt. Dann schrieb er eine Rezension. Dann schrieb er ein Buch, welches der Verleger annahm und als Rezensionsexemplar weitergab. Der nächste, der es bekam, tat desgleichen. So ist die moderne Literatur entstanden.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 14. Sep, 11:12
von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)
Ob ich Biblio- was bin?
Phile? »Freund von Büchern« meinen Sie?
Na, und ob ich das bin!
Ha! und wie!
Mir sind Bücher, was den andern Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein, und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher – – – wie beliebt? Wieviel?
Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.
Unterhaltung? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben – – –
Hei! das gibt den Muskeln die Latur.
Oh, ich mußte meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.
Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt. Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.
Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.
Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.
Wie? – ich jemals auch in Büchern lese??
Oh, Sie unerhörter Ese – – –
Nein, pardon! – Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus, und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.
Bücher – Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen! Laß dich doch belehren!
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hoch verehren.
Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.
Clarisse1 - 13. Sep, 14:00
Über jedem gute Buche muß das Gesicht des Lesers von Zeit zu Zeit hell werden. Die Sonne innerer Heiterkeit muß sich zuweilen von Seele zu Seele grüßen, dann ist auch im schwierigsten Falle vieles in Ordnung.Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Clarisse1 - 13. Sep, 11:23
Bücher haben viel Angenehmes für die, welche die richtigen aussuchen können; aber: ohne Schweiß kein Preis; wie die anderen Freuden ist auch die Freude an den Büchern nicht einfach und rein; es sind recht schwere Nachteile damit verbunden; die Seele ist bei der Lektüre tätig, aber der Körper, um den ich mich doch auch kümmern muß, bleibt dabei untätig, kommt herunter und verkümmert.Michel de Montaigne (1533 – 1592)
Clarisse1 - 13. Sep, 09:44
von Alfred Lichtenstein (1889 – 1914)
Ein Kaufmann geht mit Frau und Kind spazieren.
Schulbuben fahren um die Wette Rad.
Frau Sonne trocknet einen Leichenkutscher.
Ein Spieler setzt den anderen schachmatt.
Korrekte Leute wandern in die Kirchen.
In einem Zimmer hängt sich einer auf.
Todmüder Dichter wirft in schönster Stunde
Zum letztenmal die kranke Faust hinauf.
Clarisse1 - 9. Sep, 18:12
von Heinrich Heine (1797 – 1856)
Philister in Sonntagsröcklein
Spazieren durch Wald und Flur;
Sie jauchzen, sie hüpfen wie Böcklein,
Begrüßen die schöne Natur.
Betrachten mit blinzelnden Augen,
Wie alles romantisch blüht;
Mit langen Ohren saugen
Sie ein der Spatzen Lied.
Ich aber verhänge die Fenster
Des Zimmers mit schwarzem Tuch;
Es machen mir meine Gespenster
Sogar einen Tagesbesuch.
Die alte Liebe erscheinet,
Sie stieg aus dem Totenreich;
Sie setzt sich zu mir und weinet,
Und macht das Herz mir weich.
Clarisse1 - 9. Sep, 15:47
gesammelt von Karl Bartsch (1832 – 1888)
72.
Ein Kind, welches am Sonntag geboren ist, darf nicht am Donnerstag, und ein Kind, welches am Donnerstag geboren ist, nicht am Sonntage getauft werden, sonst kann das Kind 'allens', d. h. Geister seh'n; oder: sie werden 'Hellseher'.
447.
Für den Schwindel. Den Sonntag vor dem Vollmond vor der Sonne, dann sucht man sich des Abends vorher einen jungen Pflaumenbaum, mache ein Loch an die Nordseite, und mache ein Loch, wo der Schwindel ist, daß da Blut herauskommt; das Blut fange in Baumwolle und thue es in das Loch des Baumes. Von dem Reis des Baumes machst du einen Pfropfen und machst das Loch damit zu. Man muß aber ein wenig Baumwachs oder Lehm darauf schmieren.
747.
Zur Strafe, daß die Biene am Sonntag nicht feiert, kann sie dem rothen Klee keinen Honig entnehmen.
1139.
Wenn man Sonnabend Abends oder Sonntag Wolle 'afwinnt', so bekommen die Schafe, von denen die Wolle ist, die Drehkrankheit (sei wardn narrsch).
1143.
Wer an einem Sonntag geboren ist, ist ein Glückskind.
1144a.
Wer an einem Sonntage geboren ist, besitzt die Gabe, Geister zu sehen.
1144b.
Wird ein Kind Sonntags Nachts zwischen zwölf und ein Uhr geboren, so kann es alle Gespenster sehen.
1144d.
Sonntagskinder können am Johannistage Mittags eine goldene Schüssel auf der Teufelsgrube in Rostock schwimmen sehen.
1145.
Wer Sonntags während des Gottesdienstes das Haar kämmt, kommt in die Hölle.
1146.
Näht man Sonntags Hemden oder Betttücher und hat man am Sterbetage von dem am Sonntag genähten Zeug an oder um sich, so kann man nicht sterben, bis es vertauscht ist. Dies thut man daher bei Menschen, die in langem Todeskampfe liegen.
1147.
Sonntagsbesserung beim Kranken taugt nichts.
1149.
Wenn es am Sonntag vor der Predigt (Messe) regnet, regnet es die ganze Woche.
1368.
Regnet es am Ostertage, so soll es alle Sonntage bis Pfingsten regnen.
1549.
Wer während eines Sonntags (während der Kirche) lügt, hinter dem schlägt der Blitz ein.
Clarisse1 - 9. Sep, 12:58
Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 8. Sep, 16:50
von Alfred Lichtenstein (1889 – 1914)
1
O du Berlin, du bunter Stein, du Biest.
Du wirfst mich mit Laternen wie mit Kletten.
Ach, wenn man nachts durch deine Lichter fließt
Den Weibern nach, den seidenen, den fetten.
So taumelnd wird man von den Augenspielen.
Den Himmel süßt der kleine Mondbonbon.
Wenn schon die Tage auf die Türme fielen
Glüht noch der Kopf, ein roter Lampion.
2
Bald muß ich dich verlassen, mein Berlin.
Muß wieder in die öden Städte ziehn.
Bald werde ich auf fernen Hügeln sitzen.
In dicke Wälder deinen Namen ritzen.
Leb wohl, Berlin, mit deinen frechen Feuern.
Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern.
Wer hat wie ich von eurem Schmerz gewußt.
Kaschemmen, ihr, ich drück euch an die Brust.
3
In Wiesen und in frommen Winden mögen
Friedliche heitre Menschen selig gleiten.
Wir aber, morsch und längst vergiftet, lögen
Uns selbst was vor beim In-die-Himmel-Schreiten.
In fremden Städten treib ich ohne Ruder.
Hohl sind die fremden Tage und wie Kreide.
Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder.
Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.
Clarisse1 - 8. Sep, 14:04
von Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht,
wenn deine Linien ineinander schwimmen, –
zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen
und Menschheit dein Gestein lebendig macht.
Was wüst am Tag, wird rätselvoll im Dunkel;
Wie Seelenburgen stehn sie mystisch da,
die Häuserreihn mit ihrem Lichtgefunkel;
und Einheit ahnt, wer sonst nur Vielheit sah.
Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben;
In feine Schachteln liegt ein Spiel geräumt:
gebändigt ruht ein ungestümes Treiben,
und heilig wird, was so voll Schicksal träumt.
Clarisse1 - 8. Sep, 12:56
(An den Kanälen)
von Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)
Auf den Bänken
An den Kanälen
Sitzen die Menschen,
Die sich verquälen.
Sausende Lichter,
Tausend Gesichter
Blitzen vorbei: Berlin.
Übers Gewässer
Nebelt Benzin . . .
Drunten wär's besser.
Hinter der Brücke
Flog eine Mücke
Ins Nasenloch.
Loch meiner Nase,
Nasenloch, niese doch
In die stille Straße!
Auf dem Omnibus, im Dach
Rütteln meine Knochen,
Werden gute Worte wach,
Bleiben ungesprochen. –
Ach, da fällt mir die alte Zeitungsfrau ein –
Vanblix oder Blax soll sie heißen –
Die hat ein so seltsames Schütteln am Bein,
Daß alle Hunde sie beißen. –
An den Kanälen
Auf den dunklen Bänken
Sitzen die Menschen, die
Sich morgens ertränken.
Clarisse1 - 8. Sep, 11:22
Mit den Ursachen der Eifersucht schwinden zuweilen auch die der Liebe.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 7. Sep, 17:15
Eifersucht
von Peter Altenberg (1859 – 1919)
Sie war sehr, sehr krank. – Der Arzt verordnete einen halben Liter heiße Zitronenlimonade, ein wollenes Tuch um den Kopf und stundlang schwitzen.
Sie war aber arm, und die Quartiersfrau, bei der sie wohnte, konnte ihr nur eine dünne Bettdecke geben. Da sandte ihr der Dichter seine grünrote Flanelldecke, die er selbst benötigte, und sein Freund, der Baron, sandte eine Pelzdecke aus selbstgeschossenen Wildkatzenfellen, die er gar nicht brauchte.
Als nun der Dichter sie besuchte, fand er die Pelzdecke direkt auf ihrem heißen, glühenden Leibe liegen, die Flanelldecke dagegen zuoberst. Er sagte es ihr sogleich ziemlich brutal, daß er dieses für einen „Treuebruch“ halte, wenn auch in den ersten Anfangsstadien.
Sie erwiderte: „Ich wollte deine Decke streicheln können, immer und immer mit meinen zärtlichen Fingern. Deshalb gab ich sie zuoberst.“ „Du Falsche! – – –“ sagte der Dichter und ging zürnend weg.
Später kam der Arzt und sagte: „Ich würde Ihnen vorschlagen, Fräulein, die schwere Pelzdecke zuunterst zu legen, und die leichtere Flanelldecke oben darauf; es ist zweckmäßiger!“
„Nein“, sagte sie, „das tue ich nicht.“ Als sie endlich gesund war, sagte der Arzt von ihr: „Die Hysterie solcher Patientinnen erschwert den Heilungsprozeß ganz besonders. Selbst in nichtigen Kleinigkeiten müssen sie ihren lächerlichen eigensinnigen Willen durchsetzen. –“
Clarisse1 - 7. Sep, 15:54
Über die Eifersucht
von Peter Altenberg (1859 – 1919)
Es darf für den modernen, alles durchschauenden, in gewisser Beziehung bereits wirklich allwissenden Mann nicht mehr heißen: „Wer eine Frau also ansieht, daß er ihrer begehret, der hat mit ihr bereits die Ehe gebrochen – – –“, sondern es muß noch radikaler lauten: „Dann hat sie bereits mit ihm die Ehe gebrochen!“ Denn eine getreue Frauenseele muß also mit einem Walle von Unnahbarkeit und Uneinnehmbarkeit, von Würde und Seelenadel geschützt, behütet, verteidigt sein, daß Don Juans Blick sich senkte und scheu zur Seite sich wendete! Wenn ihr den Eroberer nicht besiegen könnt, durch euer bloßes Sein, könnt ihr ihn nie und durch nichts besiegen! Er muß vor dem Mysterium eures heiligen, edlen, in sich gekehrten Seins innerlich auf die Knie gezwungen werden und reuevoll euch belassen im Frieden eures Herzens! Wehe den Minutenspendern, da doch das Leben nach Jahren zählt! Frauen, seiet so, daß der wilde Krieger vor dem Walle eures Tempels freiwillig umkehre! Frei und willig! Dann wird die Eifersucht, diese schrecklichste Erkrankung der Mannesseele gebannt, verbannt, besiegt sein!
Clarisse1 - 7. Sep, 09:59
. . . wächst kein Gras. In Wien verdorrt es.. . . geht man auf Papiermaché, in Wien beißt man auf Granit.. . . gehen so viele Leute, daß man keinen trifft. In Wien trifft man so viele Leute, daß keiner geht.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 6. Sep, 15:20
Quanquam ridentem dicere verum
Quid vetat?
von Ignaz Wrobel [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Über dieser Stadt ist kein Himmel. Ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen. Über das Wetter wird zwar geschimpft, aber es ist kein Wetter in Berlin.
Der Berliner hat keine Zeit. Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät – und hat sehr viel zu tun.
In dieser Stadt wird nicht gearbeitet –, hier wird geschuftet. (Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt, und von dem man etwas haben will.) Der Berliner ist nicht fleißig, er ist immer aufgezogen. Er hat leider ganz vergessen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind.
HIER GEHT'S WEITER
Clarisse1 - 6. Sep, 10:47
Nichts beglückt den Eifersüchtigen mehr, als den Gegenstand seiner Liebe unterschätzt zu sehen.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 5. Sep, 16:10
Moralische Vergehen verdammt man um so strenger, je mehr Genuß dabei zu beneiden ist.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 5. Sep, 15:03
Es gibt keinen strengeren Moralisten als den Betrüger, wenn er betrogen wird.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 5. Sep, 11:17
Öffentliche Moral nennt man jene spanische Wand, hinter der sich unsre Laster verbergen.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 5. Sep, 08:41
von Clara Müller (1861 – 1905)
Was sträubst du dich der süßen Glut,
die züngelnd schon dein Haupt versengt,
die liebeheißen Atems dich
mit Flammenarmen eng umdrängt?!
Die Glut bin ich – und du bist mein!
wirf ab, wirf ab das Alltagskleid:
gib deine ganze Seele hin
in ihrer nackten Herrlichkeit!
Umschlingen will ich glühend dich
und pressen dich ans heiße Herz,
die Kette schmelzen, die dich band,
in meinem Kuß wie tropfend Erz!
Und flüstern will ich dir ins Ohr
ein Wörtlein, zaub'risch wunderfein,
daß du nichts andres denken sollst,
als mich allein, als mich allein …
Clarisse1 - 4. Sep, 19:01
In der deutschen Bildung nimmt den ersten Platz die Bescheidwissenschaft ein.Die Deutschen sitzen an der Tafel einer Kultur, bei der Prahlhans Küchenmeister ist.Die deutsche Bildung sollte nicht geleugnet werden. Nur muß man auch wissen, daß sie kein Inhalt ist, sondern ein Schmückedeinheim.Karl Kraus (1874 – 1836)
Clarisse1 - 4. Sep, 05:57