Manche Menschen haben bloß männliche, andere bloß weibliche Gedanken. Daher gibt es so viele Köpfe, die unfähig sind, Ideen hervorzubringen, weil man die Gedanken beider Geschlechter vereint besitzen muß, wenn eine idealische Geburt zustande kommen soll.Ludwig Börne (1786 – 1837)
Clarisse1 - 2. Nov, 12:08
von Aloys Blumauer (1755 – 1798)
Die Tyrannin, die so viele Sklaven
Zählt als Menschen auf der Erde sind,
Und mit ihren sieggewohnten Waffen
Alles zwingt, ist doch der Freiheit Kind.
Sie, an deren schwerem Siegeswagen
Wir nie anders als gebunden geh'n,
Der nur Zwang und Sklavendienst behagen,
Kann doch ohne Freiheit nicht besteh'n.
Sie, die mit dem Blick die Freiheit tödtet,
Stirbt doch selbst vom kleinsten Hauch der Pflicht,
Sie, die uns so fest zusammenkettet,
Duldet die geringste Fessel nicht.
Sie, die Widerstand nicht überwindet,
Die selbst Elternfluch nicht übermannt,
Flieht vor jedem Schein des Zwangs, und schwindet
Unter'm Segen einer Priesterhand.
Sie, die frei im ew'gen Lenze blühet,
Welket über Nacht im Ehhett' ab;
Sie, die nach Genusse lechzt und glühet,
Findet im Genusse selbst ihr Grab.
D'rum wozu soll sich der Mensch entschliessen?
Soll er ewig fruchtlos Sklave seyn?
Soll er lieben ohne zu geniessen?
Oder soll er ohne Liebe frey'n?
Clarisse1 - 1. Nov, 10:51
von Peter Altenberg (1859 – 1919)
Sonniger Herbsttag – – –. An sonnigen Stellen Wärme, Hitze – – an schattigen Stellen Keller-Kälte. Es duftet nach welken Blättern und frischer feuchter Erde. Auf den Uferwiesen stehen kurze dünne helliotropefarbige Striche, Colchicum autumnale.
Braune Libellen baden im Sonnenlichte – – –. Auf der weissen Strasse zwischen den dunkelbraunen Holzbirnbäumen, fährt der Herzog mit seinem Sohne in einer offenen Equipage. Ein Tigerfell liegt über ihre Füsse. Wie sie an dem kleinen sonnengebadeten Friedhofe vorbeikommen, ziehen sie tief die Hüte ab.
Der Diener am Bock macht das Kreuz.
Nur der fette Kutscher sitzt unbeweglich – – er ist im Amte. Er starrt auf die weisse sonnige Strasse mit den Herbstblättern – – –.
Im Garten einer Villa blühen rothe und gelbe Georginen.
Auf einer Bank, in der Herbstsonne, sitzt ein junges Mädchen.
Es träumt: "Wird man heuer die Ballkleider rund ausgeschnitten tragen?!"
Die Georginen werden in allen Farben gezogen – das sind die Harmonieen der Kultur.
Im herzoglichen Garten stehen sie in dicken Büschen, roth und gelb gesprenkelt, weiss und lila, rosa und rostroth, wie Bordeaux-Wein und Safran, wie Alpenglühen und Zimmtfarbe – – –.
Die Equipage fährt ein durch das schmiedeeiserne Gitterthor mit den goldenen Rosetten, der Diener springt vom Bock. Der alte Herzog und der junge Herzog steigen aus. Der Diener verbeugt sich tief.
Nur der fette Kutscher sitzt unbeweglich. Er starrt auf die weisse sonnige Allee mit ihren Herbstblättern – – –. Er ist im Amte.
Die hellen Birken zittern. In den Lüften schreien die Krähen "kraa – – kraa!"
Die Georginen stehen da in allen Farben, die hellen glänzen wie Butter, die dunklen sind matt wie Sammt.
Hochadel und Villenbesitzer! Ihr sitzt noch in den Gärten in der Herbstsonne und fahrt auf den Landstrassen in den Equipagen – – –! Ihr dürft noch die goldenen Lichter der letzten Herbsttage trinken, Ihr, die Georginen und die Krähen – – – kraa!
Clarisse1 - 31. Okt, 10:17
von Max Dauthendey (1867 – 1918)
Die stolze Fülle verstümmelt, gebrochen.
Die reiche Erde verknöchert, bestaubt.
Fäule kommt auf trägem Leib gekrochen
Und reckt voll Gier das graue Moderhaupt.
Doch trotzig sträuben sich die zähen Pulse,
Die Todesangst fliegt auf, taumelt, rafft
Aus dem zermorschten Siechen
Die letzte, ringende Kraft.
Zitternde Bläße schminkt sich
Mit stierem grinsenden Blut,
Mühsames Leben lodert
Leere, erheuchelte Glut.
Flammenjauchzen durchgellt
In grassem Echo die Welt,
Betäubende Feuer schäumen,
Farben tollen, bäumen
Schrille, kreischende Funken,
Lachen rast, wahnsinntrunken.
Doch unter all dem blinden Tosen,
Durch den verzweifelten Sturm,
Pocht an die flackernden Rosen –
Der Totenwurm.
Clarisse1 - 30. Okt, 13:59
aus: Karl Kraus (1874 – 1936): Genua. – In: Brot und Lüge. Aufsätze 1919–1924.
Was das Wort "Journaille" betrifft, so habe ich wohl das Verdienst, es in Umlauf gebracht zu haben, aber es stammt nicht von mir, wie hierzulande immer gemeint wird, sondern, wie schon einmal festgestellt wurde, von Alfred Berger, der es aber entweder bei Rochefort gefunden oder seinen Prägungen nachgebildet hat; von einem Manne, der zwar genug eigenen Witz hatte, es zu bilden, aber nicht genug Festigkeit, es zu behaupten, und der jedenfalls einen so beweglichen Geist besaß, daß er ihn auch im Umgang mit der Journaille zur Geltung bringen konnte.
Clarisse1 - 29. Okt, 14:15
Religion, Moral und Patriotismus sind Gefühle, die sich erst dann bekunden, wenn sie verletzt werden. Der Sprachgebrauch, welcher sagt, daß einer, der leicht zu beleidigen ist, "gern" beleidigt ist, hat recht. Jene Gefühle lieben nichts so sehr wie ihre Kränkung, und sie leben ordentlich auf in der Beschwerde über den Gottlosen, den Sittenlosen, den Vaterlandslosen. Den Hut vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weitem keine so große Genugtuung wie ihn jenen vom Kopf zu schlagen, die andersgläubig oder kurzsichtig sind.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 28. Okt, 11:25
Oft bin ich nah der Sprachwand und empfange nur noch ihr Echo. Oft stoße ich mit dem Kopf an die Sprachwand.Wenn ich nicht weiter komme, bin ich an die Sprachwand gestoßen. Dann ziehe ich mich mit blutigem Kopf zurück. Und möchte weiter.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 27. Okt, 17:39
Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 23. Okt, 12:25
Clarisse1 - 22. Okt, 06:41
Es gibt einen Kulturgeschmack, der sich der Läuse im Pelz mit aller Gewalt zu entledigen sucht. Es gibt einen, der die Läuse duldet und den Pelz auch so tragbar findet. Und es gibt schließlich einen, der am Pelz die Läuse für die Hauptsache hält und deshalb den Pelz den Läusen zur freien Verfügung überläßt.Karl Kraus (1874 – 1936)
Clarisse1 - 21. Okt, 09:49
Kritiker – wie Lakaien vor der Saaltüre bei einem Hofball, sie können schlechtgekleidete und unberechtigte Leute abweisen und gute einlassen, aber sie selbst, die Türsteher, dürfen nicht hinein.Heinrich Heine (1797 – 1856)
Clarisse1 - 16. Okt, 17:49
Verlagskataloge
von P.P.
Verlagskataloge –? Was ist das –? Das gibt’s wohl gar nicht mehr? Früher…
Da liegen nun auf meinem Nachttisch die alten sorgfältigen und vollständigen Kataloge von Georg Müller, von Piper, von S. Fischer, vom Insel-Verlag … viel Arbeit und Mühe, viel Kosten und Papier sind auf diese Kataloge verwandt worden … und es hat sich auch gelohnt. Denn der Käufer trat in eine enge Beziehung zum Verlag, er kam ihm näher; er las diese Verzeichnisse wie eine Liste guter alter Bekannter … aha! das ist jene Ausgabe und: schau an! die ist nun auch vergriffen, aber ich habe sie noch … und das da, das sollten sie mal wieder neu auflegen … und so fort. Und er sah noch etwas.
Er sah das Gesicht des Verlages.
Denn es hat einmal im deutschen Verlagsbuchhandel eine Zeit gegeben, wo man bei einer Neuerscheinung ziemlich genau hätte angeben können: Das kann nur bei X. erschienen sein. Dann gab es eine Zeit, in der man sagen konnte: Bei Y. kann das nicht herausgekommen sein … und heute weiß man gar nichts mehr. Jedes kann so ziemlich bei jedem erschienen sein, und man kann sie fast allesamt untereinander austauschen. Sie sollten sich fusionieren. Und die richtigen Verlagskataloge haben sie auch nicht mehr.
Ausnahmen zugegeben. Die Insel … Fischer … aber das ist alles nicht vollständig genug, und man hätte doch alle paar Jahre gern eine ganz genaue Liste dessen, was die großen Verlage während ihres Bestehens gemacht haben. Es ist auch bibliographisch nicht in Ordnung; statt einer guten Liste alter vergriffener Bände drucken sie da diese dummen Zeitungsurteile über ihre Bücher ab („Rein kulturhistoriographisch ist hier eine glänzende Arbeit fabelhaft gemacht. Auch vom menschlichen Standpunkt …“). Schade.
Freilich, bei manchen Verlagen würde sich, machten sie solche Kataloge, etwas Erschreckendes zeigen. Es zeigte sich dann nämlich, daß der Herr Verleger von Neuigkeit zu Neuigkeit getaumelt ist, von Konjunktur zu Konjunktur, von Tierbüchern zu Kriegsbüchern, von o Mensch zur neuen Sachlichkeit, von Turksib zur neuen Romantik … solch ein Verlagskatalog kann eine Aufdeckung sein und eine Blamage.
Sie hegen und pflegen nicht, was sie machen. Die Folgen sind betrüblicher Natur.
Keine Kontinuität mehr, nur Literaturbörse; wenig Verlagsgesichter, aber viel Fratzen; keine Treue des Käufers, keine des Verlegers – nichts. Woher sollte das alles auch kommen? Wenn die Kaufleute doch endlich lernen wollten, daß das, was alle zugleich machen, keinem mehr zugute kommt; sie könnten sich die Ausgaben sparen. Wenn alle Umschläge bunt brüllen, hört man zum Schluß gar nichts mehr. Wenn alle ihre Bücher in den drei Monaten vor Weihnachten herausbringen, verstopfen sie den eignen Markt, machen den Käufer kopfscheu und haben also falsch spekuliert. Es ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Affentheater.
Und warum ist das? Weil in die Breslauer der falsche Amerikanismus gefahren ist, zu dem in diesem Lande, bei dieser geschwächten Kaufkraft, auch nicht der leiseste Grund vorliegt. Es ist alles nicht wahr, euer Getue nicht und eure Eile nicht und nichts. Ihr seid in Wahrheit faul.
Es ist nämlich viel mühseliger, Steinchen auf Steinchen einer Tradition aufzubauen, als auf einen ‚Schlager’ zu spekulieren, der dann die ganze Saison herausreißen soll. Und nach zwei Jahren kennt ihr euer eignes Genie nicht mehr. Es ist schwerer, sich einen Stamm von Autoren und von Lesern bestimmter Geistesart und einheitlicher Denkfärbung heranzuziehen als im Literatur-Bac zu setzen, und doch: es lohnt. Natürlich gäbe es dabei Rückschläge, Enttäuschungen … zum Schluß aber stände ein Gebäude da und nicht einer von diesen Zeitungskiosken, an denen die Schlagzeilen kreischen.
In der Fachliteratur ist das ja wohl anders.
In der sogenannten schönen Literatur aber, die diesen Beinamen heute weniger verdient denn je, ist es mit der Kontinuität traurig bestellt. Es gibt kaum noch große und echte Verlagskataloge. Und so kaufen die Leute keine Verlagswerke mehr, sondern nur noch Novitäten, und so hält sich jedes dieser sinnlos herausgeschleuderten Bücher allerhöchstens ein Jahr … und den Schaden tragen die Autoren und die amerikanischen Verleger aus Beuthen. Sie haben so wenig Verlagskataloge. Weil sie so wenig Verlage haben.
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Dies schrieb Kurt Tucholsky vor 77 Jahren unter dem Pseudonym Peter Panter in der „Weltbühne“ vom 24. Februar 1931. Es wäre überflüssig, dem im Oktober 2008 etwas hinzufügen zu wollen.
Clarisse1 - 15. Okt, 13:20
von Karl Kraus (1874 – 1936) in: "Die Fackel", Nr. 81, Juni 1901, S. 5-7
Die Börsenräthe haben eine "Action" gegen die Hofräthe vom Obersten Gerichtshof angekündigt. Nun thut eine Gegenaction noth; oder, wenn man von Börsensachen im Börsenjargon sprechen will, eine Reaction, das heißt, ein Schlag gegen das Treiben der Börsenwettbureaux, bei dem es den börsenliberalen Herren schwarz vor den Augen wird. Man muss aus dem Urtheil des Obersten Gerichtshofes, das die Unwirksamkeit des Pfandrechtes an den Depots für Differenzgeschäfte aussprach, die Consequenzen ziehen. Tausende und Abertausende sind im Lauf der Jahre durch Banken und Bankiers um ihren Wertpapierbesitz gebracht worden. Die meisten haben ihn, wenn sie Börsenwetten verloren, freiwillig hingegeben. Ihnen ist nicht zu helfen; Zahlungen einer Schuld, zu deren Eintreibung das Gesetz bloß das Klagerecht versagt – und solcher Art sind alle Wettschulden – können nach § 1432 a.b.G.-B. ebensowenig zurückgefordert werden, wie wenn jemand eine Zahlung leistet, von der er weiß, dass er sie nicht schuldig ist. Aber die Hunderte von Verleiteten und Ahnungslosen, von denen Zuschüsse zu ihren Depots verlangt und deren Engagements, weil sie sie nicht zu leisten vermochten, executiv gelöst wurden, alle die Armen, die die kargen Sparpfennige ihres Alters zu mehren gedachten und um die letzten gebracht wurden, sie können auf Grund der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zurückfordern, was ihnen widerrechtlich entzogen worden ist. Mögen sie ehestens mit ihren Klagen an die Gerichte herantreten! Aber so wie die Action der Inhaber von Börsenwettbureaux muss auch die Gegenaction die Hilfe der Regierung anrufen. Wenn alles, was unglücklichen Spielern, die sich an die Börse wagten, wider ihren Willen und widerrechtlich abgenommen worden ist, zurückgefordert wird, dann werden die Capitalien der Banken und die Vermögen der Börsenbuchmacher nicht ausreichen. Die Regierung muss rechtzeitig für die Sicherstellung dieser Ansprüche sorgen. Sie setze Curatoren zur Wahrung der Rechte aller derer ein, die künftig Rückforderungen an Banken und Bankiers stellen wollen, sie bringe ein Gesetz vor den Reichsrath, dass eine Längstfrist für die Geltendmachung der Rückforderungen bestimmt, und sie stelle bis zum Ablauf dieser Frist die Banken und Bankgeschäfte unter Sequester. Herr v. Böhm-Bawerk bedauert gewiss, dass es an einer gesetzlichen Handhabe fehlt, um die Ansprüche der im Börsenspiel Geplünderten auch auf die aus dieser trüben Quelle stammenden Vermögen von Verwaltungsräthen und Bankdirectoren sicherzustellen und sich eventuell auch der Personen dieser Herren zu versichern. Hoffentlich bringt hier die Zukunft Rath. Im Deutschen Reich können wir jetzt beobachten, welch treffliche Wirkung die Verhaftung einiger Bankdirectoren thut. Wenn man uns eines Tages auch nur einen der unseren Spielbanken vorstehenden Ehrenmänner entrisse, so würde man sämmtlichen Instituten dieses Kalibers die Fortsetzung ihrer noch immer bloß vom landesfürstlichen Commissär und niemals von dem hoffentlich scharfsichtigeren Staatsanwalt geprüften Geschäftspraxis weit gewisser unmöglich machen, als es durch das beste Börsengesetz geschehen könnte. »Men, not measures« bedeutet in Börsensachen so viel wie: Keine gesetzlichen Maßnahmen gegen die Banken, aber die Festnahme der Bankdirectoren . . . .
Clarisse1 - 14. Okt, 13:31
Clarisse1 - 8. Okt, 12:47