Selbstbeobachtung genügt, um Satiriker zu werden.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 14. Apr, 09:21
– traumverloren –
( IV )
Parma
(Correggios Madonna della Scodella)
Des Himmels höchste Wölbung zu erfliegen
Ist deiner Engel Jubelsturm geglückt,
Und wieder liebtest du, dem Licht entrückt
In spielend süßer Dämmrung dich zu wiegen.
Auch der Gefühle Zwielicht, drin verschwiegen
Die Seele schwelgt, hat deinen Sinn entzückt;
So schufst du die Madonna reizgeschmückt,
Wert, daß die Himmel ihr zu Füßen liegen.
Noch ist sie irdisch ganz. Im Palmenwäldchen
Ruht sie behaglich an der schönsten Stelle,
Bei ihr das Götterkind, das sie geboren.
Die Schale füllt dem blonden Huldgestältchen
Ein Engel aus improvisierter Quelle,
Indes die Mutter lächelt traumverloren. – Aus:
Paul Heyse (1830 – 1914): Verse aus Italien.
Berlin: Hertz 1880.
"'Liebst du helle oder dunkle Tapeten? Für dieses freundliche Haus würde ich dir helle vorschlagen.'
'Natürlich helle.' Dabei sahen ihre Augen wie traumverloren um sich." – Aus: Maria Janitschek (1859 – 1927): Kreuzfahrer. Leipzig: Verlag Kreisende Ringe, Max Spohr 1897.
"'Mizzi', sagte der Vorsteher zu seiner Frau, die noch immer an ihn gedrückt dasaß und traumverloren mit Klamms Brief spielte, aus dem sie ein Schiffchen geformt hatte, erschrocken nahm es ihr K. jetzt fort. 'Mizzi, das Bein fängt mich wieder sehr zu schmerzen an, wir werden den Umschlag erneuern müssen.'" – Aus: Franz Kafka (1883 – 1924): Das Schloß. München 1926.
Clarisse1 - 13. Apr, 13:59
– traumverloren –
( III )
"Wer wissen will, wo meine Seele wohnt,
Muß sie an weltverborgener Stätte suchen . . .
In alten Gärten, wo der stille Mond
Verstohlen küßt die dunkelroten Buchen;
Wo sich ein Netz von lichten Fäden spinnt
Auf Wege, die zu wundertiefen Weihern
Sie leise führen wie ein Königskind,
Das traumverloren wallt in Duft und Schleiern."
– Aus: Karl Henckell (1864 – 1929): Buch des
Lebens. München: Müller 1921.
"Am Eingang der dämmernden Hallen standen sie bisweilen, traumverloren lehnend an einer der wuchtigen Lacksäulen, die das schwere bemalte Gebälk und die hohen, geschwungenen Dächer tragen. Und hinter ihnen im Dunkel ahnte man die phantastisch fratzenhaften Gestalten riesiger Götzen, die Verzerrungen der Drachen an den geschnitzten Decken, die Ocker- und Rosttöne uralter Vergoldungen. Zu bestimmten Stunden rief die große bronzene Tempelglocke, die von außen angeschlagen wird, mit dumpfem Dröhnen durch all die vielen Höfe, die Pavillons, Hallen und Zellen. Dann kamen die Priester in langen Reihen angezogen, den buddhistischen Rosenkranz zwischen den dünnen, gelben Fingern haltend." – Aus: Elisabeth von Heyking (1861 – 1925): Tschun. Eine Geschichte aus dem Vorfrühling Chinas. Berlin, Wien: Ullstein & Co. 1914.
Clarisse1 - 11. Apr, 16:41
von Karl Henckell (1864 – 1929)
Ich kann es nicht in Worten sagen,
Was mich im Innersten erfüllt:
Worte sind wie abgetragen
Bettlergewand, das einen Gott verhüllt.
Von meinem Gott kann ich nicht prahlen
Mit eitel Klanggeräusch und Ruhm,
Mit armem Sprachgemünz bezahlen
Den Zutritt in mein tiefstes Heiligtum.
Schweigend muß ich der Kraft vertrauen,
Die kündet jeder Atemzug,
Die aus dem Staub mit Adlerklauen
Mich zu des Lebens reinen Höhen trug.
Clarisse1 - 11. Apr, 11:07
Alle hoffen auf ein Jenseits und niemand freut sich darauf.Emanuel Wertheimer (1846 – 1916)
Clarisse1 - 9. Apr, 12:14
von Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Ein finstrer Esel sprach einmal
zu seinem ehlichen Gemahl:
"Ich bin so dumm, du bist so dumm,
wir wollen sterben gehen, kumm!"
Doch wie es kommt so öfter eben:
Die beiden blieben fröhlich leben.
Clarisse1 - 8. Apr, 09:55
Es stände besser um die Welt, wenn die Mühe, die man sich gibt, die subtilsten Moralgesetze auszuklügeln, an die Ausübung der einfachsten verwendet würde.Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916)
Clarisse1 - 6. Apr, 10:17
Es glaube doch nicht jeder, der imstande war, seine Meinung von einem Kunstwerk aufzuschreiben, er habe es kritisiert.Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916)
Clarisse1 - 4. Apr, 12:13
von Frank Wedekind (1864 – 1918)
Laß uns mit dem Feuer spielen,
Mit dem tollen Liebesfeuer;
Laß uns in den Tiefen wühlen,
Drin die grausen Ungeheuer.
Menschenherzens wilde Bestien,
Schlangen, Schakal und Hyänen,
Die den Leichnam noch beläst'gen
Mit den gier'gen Schneidezähnen.
Laß uns das Getier versammeln,
Laß es stacheln uns und hetzen,
Und die Tore fest verrammeln
Und uns königlich ergötzen.
Clarisse1 - 3. Apr, 11:16
– traumverloren –
( II )
"Nannette wandte sich ihr zu, wie traumverloren, mit dem Gesichte einer Nachtwandlerin: 'Den Brief', flüsterte sie, 'um ihn zu verbrennen. Aber – er ist schon verbrannt.'" – Aus: Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916): Bozena. Stuttgart: J. G. Cottasche Buchhandlung 1876.
"Das Bild, aus dem sie unvergänglich jung und lieblich herabsah, war in ihrem achtzehnten Jahre, dem ersten Jahre ihrer Ehe, gemalt worden. Es stellte sie dar in einem weißen Spitzenkleide, mit bloßem Halse, mit nachlässig herabhängenden Armen, eine weiße, kaum aufgeblühte Rose in der Hand. Den Kopf leicht vorgeneigt, schien sie traumverloren zu lauschen. Maria besann sich noch, sie so gesehen zu haben im Konzert, in der Oper, und auch wenn der Vater oder sie zu ihr sprachen." – Aus: Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916): Unsühnbar. Berlin: Gebrüder Paetel 1890.
"Und die Mädchen, die vor Tür und Toren
Halbverschlafen in die Sonne sehn,
Strecken sich und fragen traumverloren:
Wo doch nur die vielen Rosen stehn?" – Aus:
Gustav Falke (1853 – 1916): Der schlafende Wind. – In:
Mit dem Leben. Neue Gedichte. Hamburg: Janssen 1899.
"Auf oft betretner Fährte des Gedankens,
Vergißt er, traumverloren, Zeit und Welt;
Er steigt ins eigne Herz hinab und schreibt:" – Aus:
Theodor Fontane: Sir Walter Raleighs letzte Nacht (1851/52)
"An die Möglichkeit eines solchen Wechsels schien Kitty in dieser Stunde nicht zu denken. Mit abgöttischer Andacht hing ihr Blick an dem Bild, und traumverloren flüsterte sie vor sich hin: 'Wie glücklich er sein wird! Wie glücklich!'" – Ludwig Ganghofer (1855 – 1920): Schloß Hubertus. Stuttgart: Bonz 1895.
Clarisse1 - 2. Apr, 18:22
– traumverloren –
( I )
"Amrei war unterdeß wie traumverloren dahin gegangen. Sie schaute wie fragend nach den Bäumen auf; die stehen so ruhig auf dem Fleck und die werden so stehen und auf dich niederschauen, Jahre, Jahrzehnte, dein ganzes Leben lang als deine Lebensgenossen; und was wirst du derweil erfahren!" – Aus: Berthold Auerbach [i. e. Moses Baruch Auerbacher (1812 – 1882)]: Barfüßele. Stuttgart, Augsburg: Cotta 1856.
"Droben am Fenster stand die Gräfin Savelli. Sie lauschte. Am vollen Ton erkannte sie unter allen Stimmen die ihres Enkels. 'Jugend!' lächelte sie, und traumverloren glänzten die dunklen Augen." – Aus: Lily Braun (1865 – 1916): Lebenssucher. München: Albert Langen 1915.
"'Weißt du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschnürte, als sie ein Kind war? Vor ihr auf den Knien, – nur damit sie sich nicht bücken sollte?' begann sie langsam, traumverloren. 'Dann pflegte ich ihren Mann zu Tode, – und nun läßt mir die Angst keine Ruhe, daß sie wieder in ihr Unglück rennt –' Sie ließ sich nicht beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee sie beherrschte." – Aus: Lily Braun (1865 – 1916): Lehrjahre. München: Albert Langen 1909.
"Wie traumverloren sitzt sie dort,
Spinnt an ihrem Silberrocken,
Die Spindel webt in einem fort
Und verstreut die Mondlichtflocken." – Aus:
Theodor Däubler (1876 – 1934): Das Nordlicht.
Florentiner Ausgabe. München, Leipzig: Georg Müller 1910.
"Ich fahre noch in meinem Sehnsuchtskahn hinüber,
In einem anderen ruht mein Weib wie traumverloren,
Nun werden aber ihre Augen immer trüber,
Ihr Lachen und ihr Sorgen scheinen tief erfroren!" – Aus:
Theodor Däubler (1876 – 1934): Nordlicht. Florentiner
Ausgabe. München, Leipzig: Georg Müller 1910.
"Er wußte, daß er in einer bestimmten Nachmittagsstunde sein Käthchen im Garten treffen würde. Dort suchte er sie auf und fand sie auf einer Bank unter einer Linde, mit einem Buch in der Hand, in dem sie nicht las. Sie hatte den Kopf gegen den Rücken der Bank gelehnt; traumverloren blickte sie in's Leere." – Aus: Hedwig Dohm: (1831 – 1919): Wie Frauen werden. Breslau: S. Schottlaender, Schlesische Verlags-Anstalt 1894.
"Raubthierwüthig jagt er durch das Zimmer,
Von den Schläfen tropft's ihm heiß und kalt,
Jubel wechselt mit der Qual Gewimmer,
Und er donnert, säuselt, kreischt und lallt.
Da – auf einmal steht er traumverloren,
Nur sein Fieberauge starrt und starrt:
Ist's ein Mensch, gleich ihm in Fleisch geboren,
Ist's ein Trugbild, das die Sinne narrt? –" – Aus:
Felix Dörmann (1819 – 1895): Sensationen. Wien 1892.
"Die vierzehn Tage bis Weihnachten gingen wie im Fluge dahin. Beide Schwestern hatten alle Hände voll zu thun. Neben den Berufsarbeiten sollten noch Weihnachtsgeschenke für zu Haus und gegenseitige kleine Ueberraschungen angefertigt werden. Und dabei kam Lotte nicht von der Stelle. Die Glieder waren ihr schwer wie Blei, und wie zerschlagen schlich sie umher. Bei der Arbeit sanken ihr die Hände traumverloren in den Schoss." – Aus: Dora Duncker (1855 – 1916): Großstadt. Berlin: Richard Eckstein Nachf., H. Krüger 1900.
Clarisse1 - 2. Apr, 12:26
Er ist ein seelischer Voyeur. Er selbst nimmt an den meisten Dingen gar nicht richtig teil; aber er will ganz genau wissen, was die andern machen und wie sie es machen und mit wem . . .Kurt Tucholsky (1890 – 1935)
Clarisse1 - 1. Apr, 08:11
Ein Gedanken-Vakuum, was für ein Glück, daß die Köpfe nicht zerdrückt werden. Wenn eine Gedanken-Leere auch um sie herum ist, so ist es nicht möglich.
Es ist ein Glück, daß die Gedanken-Leerheit keine solche Folge hat, wie die Luftleerheit, sonst würden manche Köpfe, die sich an die Lesung von Werken wagen, die sie nicht verstehen, zusammengedrückt werden.Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799)
Clarisse1 - 31. Mär, 09:31
Ada Christen (1839 – 1901)
Immer fein nach der Schablone,
Immer fein in dem Geleise!
Leg' zurecht Dir Schmerz und Wonne
Nach der hergebrachten Weise.
Und kann nicht in alle Formen
Dein vertracktes Wesen passen,
Widerstrebt es dir, mit Normen,
Altgewohnt, dich zu befassen,
Ei, so lasse dich auch stutzen,
Lasse dich ein wenig blenden;
Um die Form nicht zu beschmutzen,
Laß den Inhalt lieber schänden.
Lasse langsam Dich dressiren
Zu der Alltags-Kleingeld Phrase;
Lern' gleich Anderen brilliren
Mit der hohlsten Seifenblase.
Deinen Ruhm an allen Orten
Werden sie dann singen, sagen –
Aber was aus Dir geworden,
Darfst Du selbst Dich niemals fragen.
Clarisse1 - 30. Mär, 15:02
von Charlotte von Ahlefeld (1781 – 1849)
Lieblich ist des Lenzes erstes Lächeln,
Wenn in Blüthenbäumen laue Luft sich wieget,
Und des Baches eisbefreite Welle
Nicht mehr stockend, durch die Fluren rinnt.
Dann ermuntern sich zu neuem Leben
Die verblichnen Wiesen aus dem Winterschlafe,
Und das Gras wacht auf, und decket träumend
Wiederum den Schooss der Mutter Erde.
Und die Blumen öffnen ihre Kelche –
Alle die im späten Herbste starben
Richten sich aus ihrem dunklen Grabe
Neu empor im Glanz der Auferstehung.
O Natur – wie milde giebst Du wieder
Was Dein feierlicher Gang zertöret.
Fest im stillen, ewig gleichen Kreislauf,
Folgt auf Deinen Ernst ein mildes Lächeln.
Nicht Vernichtung, nur ein leiser Schlummer
Hält des Frühlings holde Lust gefangen;
Bald, bekränzt mit Veilchen, kehrt er wieder
Süss umhallt von Nachtigallentönen.
Doch wann kehrt der Liebe Frühling wieder?
Ach, verscheucht hat ihn die Nacht der Trennung
Und der Winterschauer einer ew'gen Ferne
Tödtet rauh das zarte Grün der Hoffnung.
Des Beisammenlebens Stundenblumen
Starben hin im Seufzerhauch des Abschieds.
Kummervoll benetzt von heissen Thränen,
Sind der Freude Rosen längst verblichen.
Keine Sonne wird sie neu erwecken –
Keines Wiedersehens goldner Schimmer
Winkt des Glückes lichterfüllte Tage
Aus dem Grabe der Vergangenheit hervor.
Traurig zieht der Jahreszeiten Wechsel
Meinem still umwölkten Blick vorüber.
Ach es folgt der Frühling auf den Winter,
Aber nimmer kehrt der Liebe Frühling wieder!
Clarisse1 - 29. Mär, 12:02
von Peter Panter / Theobald Tiger [i. e. Kurt Tucholsky (1890 – 1935)]
Der andere auch! Der andere auch!!
Der andere auch!!!
–
Eine kleine Sonntagspredigt
mit einem nachdenklichen Chanson
Auf der Erde leben einundeinedreiviertel Milliarde Menschen (die Anwesenden natürlich ausgenommen) – und im Grunde denkt jeder, er sei ganz allein, was die Qualität anbetrifft. "So wie ich . . ." denkt jeder, "so ist kein anderer – so kann kein anderer sein." Ob das wohl richtig ist? –
Weiterlesen
Clarisse1 - 28. Mär, 13:24
Manche Bücher sind länger als sie scheinen. Sie haben in der That kein Ende. Die Langeweile die sie erregen, ist wahrhaft absolut und unendlich. Musterhafte Beyspiele dieser Art haben die Herren Heydenreich, Jacob, Abicht und Pölitz aufgestellt. Hier ist ein Stock, den jeder mit seinen Bekannten der Art vergrößern kann.Novalis [i. e. Friedrich von Hardenberg (1772 – 1802)]Lese das Buch, langweilig, schlafe drüber ein, im Schlafe träume ich weiterzulesen, erwache vor Langeweile, und das dreimal –Heinrich Heine (1797 – 1856)
Clarisse1 - 28. Mär, 10:07