Donnerstag, 3. Januar 2008

Sprache kein Kunstwerk

von Fritz Mauthner (1849 – 1923)

Man hat die Sprache so oft ein bewunderungswürdiges Kunstwerk genannt, dass die meisten Menschen diese schwebende Nebelmase in einem verfliessenden Begriffe wirklich für ein Kunstwerk halten. Nur dass der eine dieselbe Bildung für eine Wiesenfläche, der zweite sie für einen alten Tempel und der dritte sie für das Porträt seiner Tante hält.
Ein Kunstwerk kann die Sprache schon darum nicht sein, weil sie nicht die Schöpfung eines Einzigen ist. Ich kann es mir wohl denken, dass die Menschheit wortlos und begrifflos jahrhundertelang dahin gelebt hätte, zweifellos und lügenlos wie die Tierwelt, und dann einmal plötzlich ein Riesenmensch entstanden wäre, ein Klaftermensch unter Ellenmenschen. Und der wäre ein Dichter gewesen. Er hätte sich, er für sich ganz allein, als ob er in einem Donner die Spannung hätte entladen wollen, die Sprache ersehnt, erfunden und ausgebaut. Das wäre dann ein Kunstwerk geworden. Das Werk Eines. Aber auch ein Monolog. Die Ellenmenschen hätte ihn nicht verstanden. Die Sprache aus dem Donnerbedürfnis hätte ein Kunstwerk werden können. Die Sprache aus dem gemeinen Mitteilungstrieb ist schlechte Fabrikarbeit, zusammengestoppelt von Milliarden von Tagelöhnern.
Wie aber die Sprache kein Kunstwerk sein kann, weil nicht ein Einziger sie geschaffen hat, so ist sie auch kein Kunstwerk, weil sie nicht gemacht ist für das grosse Bedürfnis der Klaftermenschen, sondern für die kleinen Bedürfnisse aller. [...]
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Aus: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band: Sprache und Psychologie. Stuttgart: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger 1901, S. 25f.

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