Freitag, 18. Januar 2008

Leseerfahrungen I

von Karl Immermann (1796 – 1840)

[...] Seit meinem zehnten Jahre entbrannte in mir ein Lesehunger, der sich lange fortsetzte und den ich jetzt mir hin und wieder wünschen möchte. Diese Krankheit erscheint fast in allen Kindern, welche mit einigem Talent ausgestattet wurden. Der bloße Anblick eines Buches versetzt das damit behaftete Kind in eine Art von zitternder Begierde, die weniger die Stillung einer eigentlichen Neugier sucht, sondern aus der ersten Ahnung von dem unermeßlichen Reiche des Wissens entspringt. Nur im Gedruckten, was es auch sei, lebt und webt das junge Geschöpf, die entlegensten Winkel werden aufgesucht, um die geliebte Speise in Muße verzehren zu dürfen, frühe Morgen- oder späte Abendstunden bringen keinen Schlaf in das nach den Lettern verlangende Auge.
Ich las, wessen ich nur habhaft werden konnte und genoß die seligsten Stunden bei dem, was ich verstand und – nicht verstand. Reisebeschreibungen, Biographien, Romane, Schauspiele wurden verschlungen. Aber auch das, was für meine Jahre von keinem Interesse sein konnte, war mir eine genehme Kost; ich arbeitete mich durch den ganzen weitschichtigen Abbé de la Pluche hindurch und sogar durch drei Bände von schlesischer Landwirtschaft, die ich mir aus des Vaters Bibliothek zu verschaffen gewußt hatte. Ich war unglaublich fertig im Schnellesen und ein nicht gar zu dicker Band kostete mich selten mehr als einen Tag.
Mein Vater aber, dem diese Wut gefährlich für die Sinne und Phantasie seines Sohnes vorkommen mochte, erließ plötzlich das geschärfteste Edikt, daß ich nichts mehr lesen solle, als was er mir in die Hand gebe, worauf mir denn von ihm schmale Portionen zugingen, wöchentlich etwa ein Buch, meistenteils Reisen.
Daß eine solche Untersagung, die in den vollen Wachstum des Naturtriebes einschnitt, nichts verfing, war natürlich. Ich befriedigte meine Gelüste nun heimlich, wie es nur immer angehen wollte, nur noch glücklicher im verbotenen Genuß. Eines Tages saß ich denn auch im stillen Hinterstübchen, hingenommen von einer alten Schwarte und meines Wähnens völlig sicher. Die Lektüre war eine völlig unschuldige; ich las in einer Wiener Übersetzung vom Jahre 1720 oder da so herum "des christlichen Märtyrers Polyeukt aus dem Französischen des Herrn Peter Corneille". – Polyeukt will sich taufen lassen, dann will er doch wieder nicht, weil seine Gemahlin schlechte Träume gehabt hat, und dann geht er doch mit Nearch ab, sich taufen zu lassen. Paulina, die Gemahlin, erzählt Stratonicen, daß sie Severen geliebt habe; aber:

Bei aller großen Brunst, die er und ich auch hatten,
Von meinem Vater nur erwartet ich den Gatten,
Wen er mir geben möcht, zu freien stets bereit . . .

Auch sie sagt, wie schlecht sie die Nacht geschlafen habe. Felix, der Landpfleger, kommt und meldet seiner Tochter, Sever, der alte, totgeglaubte Galan, lebe und sei vor den Toren von Melitene; sie müsse ihn durchaus mit Höflichkeit empfangen, da er ein großes Tier bei Hofe geworden sei. Paulina will nicht. Da sie aber eine Komposition von Tugend und Gehorsam ist, so wirkt der Vater mit seinem Ansehen auf die letzteren Spezies; und Paulina ruft:

Ja denn! Ich muß von neu'm bezähmen mein Gefühl,
Bin Eures Machtgebots ergebnes Opferspiel!

Bei diesen verhängnisvollen Worten ergriff mich die Nemesis. Ich hörte meinen Namen mit dem bekannten erschütternden Tone hinter mir rufen, erschrak, der christliche Märtyrer flog, wie sein Kopf im späteren Verlauf der Tragödie, blitzschnell unter den Tisch; ich wandte mich, mein Vater stand in der Kammer. Er sagte nichts, deutete nur mit dem Finger nach dem Buche, ich erhob es, reichte es ihm dar, ungefähr mit der Empfindung im Herzen, die ich nachmals, da ich den Polyeukt ohne Furcht lesen durfte, an Nearchen kennenlernte, als er nicht so rasch, wie der Held, in jene Ewigkeit einzugehen wünscht. Mein Vater sah das Titelblatt an, steckte das Buch zu sich, unbeweglich blieb sein Antlitz, kein Vorwurf überschritt die Lippen, schweigend verließ er die Kammer. Ich wußte aber, was es an der Zeit sei, noch ehe ein Dritter kam, der mir ankündigte, der Vater habe als Strafe festgesetzt, daß ich heute und morgen und übermorgen für mich bleiben solle und nicht am Tische der Eltern essen dürfe. Diese Ehrenbuße war mir die empfindlichste; aber weder meine Tränenklage noch die fürbittende Vorstellung des wohlwollenden Dritten, daß jener armenische Blutzeuge unter Kaiser Decius wohl unmöglich meine Einbildungskraft habe vergiften können, vermochte sie zu wenden. Es blieb bei der Sentenz und sie kam ohne Milderung zur Vollstreckung, denn mein Vater dachte, wie der große Kurfürst:

Ich will, daß dem Gesetz Gehorsam sei.

Aus: Memorabilien. Pädagogische Anekdoten.

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